Text "Tausend Augen" (Bernd Lubowski)

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Autor Bernd Lubowski
Texttitel Tausend Augen
Sprache Deutsch
Textform
Veröffentlichung 1984.09.07 Hamburger Abendblatt Nr. 210 S. 17

Text

Tausend Augen

Kritiker schreiben über Filme, um zu vermitteln, worum es in dem Film geht. Dabei erzählen sie oft auch, wie viel sie selbst vom Kino verstehen. Doch hilft es dem Publikum, wenn es weiss, dass der Regisseur mit seinem Film sein berühmtes Vorbild zitiert? Interessiert es den Zuschauer überhaupt? Schreibt der Kritiker diese klugen Erläuterungen nicht nur für sich und die Handvoll Cineasten, die das alles sowieso wissen?

Hans-Christoph Blumenberg war Filmkritiker, bevor er mit Tausend Augen seinen ersten Film drehte. So wie er in seinen Kritiken des öfteren filmgeschichtliche Zusammenhänge analysierte, so gibt es auch in seinem Film Zitate, die den Cineasten ein zusätzliches Rätselspiel zur Handlung aufgeben. Für den unvorbelasteten Besucher bleibt dieses fast verborgen. Denn weiss der heutige Kinogänger überhaupt, wie sehr Peter Behrens Peter Lorre ähnelt? Dass Barbara Rudnik im Film Gabriele Lang heisst, nimmt er genau so selbstverständlich hin, als hiesse sie Müller und würde nicht sofort an den Regisseur Fritz Lang denken. Und dass Peter Kraus "Singin' in the rain" mit seinem Regenschirm-Tanz zitiert - das mag dem Zuschauer gerade noch erinnerlich sein. Allerdings der Meinung zu sein, Kraus würde mit dem Regenschirm tanzen, weil er im Film Schirmer heisst, hiesse falsch geraten. Für diesen Namen gibt es eine Erklärung, die Kritiker eigentlich schnell lösen dürften, zumal, wenn sie im Film genau aufpassen. Und welcher Kinobesucher weiss schon, wie die Regisseure Wim Wenders und Jean-Marie Straub privat aussehen und können so deren Gastauftritte honorieren.

Doch genug damit. Der Film funktioniert auch ohne dieses Wissen. Denn er ist nicht als Rätselspiel für Kinosüchtige angelegt ist, sondern ein Film, der durch seine Geschichte und seine Darsteller allein funktioniert. Er ist kein Krimi, und er erfüllt auch nicht die Wünsche von Voyeuren, obwohl er zum Teil im Milieu einer Peep Show spielt. Doch nackte Haut wird so gut wie nicht geliefert. Dafür kann man Blumenberg schon wieder dankbar sein, denn diese Gelegenheit hätten sich viele seiner Kollegen kaum entgehen lassen.

Tausend Augen erzählt in erster Linie eine Ballade der Sehnsucht. Der Sehnsucht nach den noch nicht verwirklichen Träumen, der Sehnsucht nach dem Ausbruch in ein anderes Land, in eine grosse Liebe, in ein anderes Leben. Alle Figuren haben ihre eigene kleine Sehnsucht, und "Eine kleine Sehnsucht" heisst auch das Hollaender-Chanson, das Ingeburg Thomson singt. Barbara Rudnik tanzt in der Peep Show, weil sie wieder zu ihrem Freund nach Australien zurückkehren will. Peter Kraus fährt Taxi, weil auch er wieder nach Australien will. Armin Mueller-Stahl will sich aus seinem kriminellen Job lösen, weil er Barbara Rudnik liebt, weil dieses Mädchen die letzte Chance des älteren Mannes ist, noch einmal neu anzufangen. Karin Baals Sehnsucht heisst Armin Mueller-Stahl. Sie war seine Geliebte und will ihn nicht verlieren.

Blumenberg hat wundervolle Charaktere geschaffen. Er stellt keine Menschen in ausserordentlichen Situation vor, sondern in kleinen Alltäglichkeiten. Eines der eindringlichsten Portäts ist das eines jungen Türken (Mehmet Yandirer), der sich in Barbara Rudnik, dem Mädchen mit dem langen Blondhaar, aus der Ferne verliebt hat. Er folgt ihr, geht in die Peep-Show-Kabine, und er ist der einzige, der die Augen schliesst, als sie auftritt. Er überreicht ihr gemalte Zeichen seiner Zuneigung, und sie antwortet ihm mit ebensolchen. Auch Volker Eckstein zeichnet einen ganzen Charakter, und ist so gut wie lange nicht. Er spielt einen schüchternen Verehrer der Rudnik, will mit ihr in Kontakt treten, ihren wirklichen Namen erfahren, doch der Manager und die Kassiererin erklärem ihm kühl, dass dieses Ansinnen gegen die Geschäftsregeln vestösst. Ansehen - gegen Kleingeld - darf er sie, so lange er will, auch die Blumen für sie werden entgegengenommen, aber ihre Anonymität zu durchbrechen, ist ausgeschlossen. Die Beziehungen bleiben kühl - egal, wie heiss die Sehnsucht ist.

Es gibt nur wenige Dialoge. Die Geschichte läuft über die Gefühlswellen der Charaktere und der Zuschauer. Aber auch über die Gesichter der Schauspieler. So werden wunderbare Stimmungen auf der Leinwand breit, spielen die Schauspieler weniger fremde Charaktere, als dass sie durch ihre Eigenständigkeit präsent sind und dadurch glaubwürdig. Allein Gudrun Landgrebe und Peter Behrens fallen aus diesem Schema - sie sind reine Kinomythen und als solche sehr stimmig ausgewählt. Und wenn Peter Kraus im Hinterhof mit dem Regenschirm tanzt, so hat das mit dem Fortlauf der Geschichte(n) im Film eigentlich nichts zu tun, aber es setzt eine dieser reizvollen Stimmungen frei (auch ich habe schon auf der Straße zu "Singin' in the rain" aus lauter Übermut getanzt, obwohl ich gar nicht steppen kann), die natürlich nur im Kino wirken. Aber deshalb geht man ja auch ins Kino (Holi).

Versionen

Datum Autor Format Titel Verlag Anmerkungen
1984.09.07 Bernd Lubowski Artikel Tausend Augen DE: Hamburger Abendblatt Nr. 210 S. 17