Lieber, böser Niklaus
nun sprechen und schreiben sie alle von Dir
im Imperfekt
er war, er wurde
er schrieb, er lebte
er ging
so schnell passt sich Sprache
der Wirklichkeit an
und die Wirklichkeit sagt
seit Freitag, 16 Uhr
immer wieder dasselbe:
Selbstmord.
Und ich sitze da
und kann es
noch immer nicht glauben
obwohl Du selbst
mir davon gesprochen hast
im Sommer
der eben noch war
im Sommer
als Dich die Liebe verliess
und Dein harter Schädel
nach Deinem Unfall
langsam wider
zu schaffen begann
und Dein weiches Herz
erbleichte vor Leere.
Auch Selbstmord
ist Mord.
Was brachte Dich um
oder wer?
Die Gesellschaft
gegen welche Du anschriebst
die schweigende Mehrheit
welche Dich hasste
oder am Ende wir alle?
Die Freunde noch mehr als die Feinde?
Täuschen liessen wir uns
durch den Hünen Meienberg
zu wenig spürten wir
dass Du auf nichts
so dringend gewartet hast
wie auf die Frage:
Wie geht es Dir?
Verwundert gingst Du
durch Oerlikon-City
mit dem Traum von Paris im Kopf
dem enttäuschten
denn auch Paris
wird immer mehr
Zürich-Nord
so les ich's im ersten Kapitel
von Zunder
dem letzten Buch von Dir
das nun das letzte bleiben wird
und als Du es vorige Woche
bei mir vorbeigebracht hast
da hab ich noch nicht gewusst
dass das Dein Alterswerk ist
denn ich habe auch künftig
gerechnet mit Dir
Deinem starken Blick
für die Schwächen der Zeit
Deiner Wissbegier
Deinem Sinn für Gerechtes und Ungerechtes
für Lügen und Wahrheit
und vor allem hab ich gerechnet
mit Deiner farbigen, blühenden, blitzenden
fröhlichen, traurigen, knirschenden
Sprache
die ein Protest war
– ist! –
gegen Langeweile des Denkens und Lebens
gegen gens de toutes sortes
qui n'égalent pas leur destins
wie Du in Deiner eigenen Todesanzeige
zitierst
gegen Leute jeglicher Art
die ihr Schicksal nicht wert sind.
Du wolltest das Deine selbst bestimmen
davor ist Respekt am Platz
doch erlaube mir auch
zu trauern
um Dich
denn Du warst ein Freund
und als wir vor ein paar Tagen
zusammen am Oerliker Bahnhof standen
und spotteten über das Minishopville
das unter den Gleisen entsteht
und als Du dann Deine Hand hobst
zum Abschied
und in der Unterführung verschwandest
warum hab ich Dir da nicht nachgerufen:
Lieber Niklaus
bleib noch ein bisschen!
Auf unseren Tischen
steht Brot und Wein für Dich!
Wir alle würden Dich sehr vermissen
wenn Du jetzt schon gingest
schon jetzt!