Text "Ein Liedermacher spielt mit Mord und Selbstmord" (Harald Heinzinger)

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Autor Harald Heinzinger
Texttitel Ein Liedermacher spielt mit Mord und Selbstmord
Sprache Deutsch
Textform
Veröffentlichung 1982.11.28 Bild am Sonntag

Text

Hit gegen die Moral: Marius Müller-Westernhagen

Ein Liedermacher spielt mit Mord und Selbstmord

Ein Junggeselle und Porschefahrer hat unserer Gesellschaft den Krieg erklärt: Marius Müller-Westernhagen (33), schauspielender Sänger und Teenager-Idol, schlägt auf seiner neuen LP Das Herz eines Boxers wie wild um sich.

Er zeigt Verständnis für einen Polizistenmord, will dem Weltuntergang mit selbstgebastelten Handgranaten zuvorkommen und spielt den Mephisto, der einen Menschen zum Selbstmord "verführt" - Marius läuft anscheinend Amok.

In dem Song "Spring doch schon" beschreibt Marius Müller-Westernhagen einen Mann, der auf dem Dach eines Hauses steht und drauf und dran ist, sich in die Tiefe zu stürzen.

Der Refrain lautet: "Spring doch schon, wer braucht dich noch? Spring doch schon, wer liebt dich noch? Spring doch schon, lass dich fallen, Mann, bis dein Herz zerspringt. Denn das Leben, das schöne Leben, war für dich doch nur ein Witz!"

Ist es Satire? - Dann ist es geschmacklos!
Ist es Ironie? - Dann ist es ätzend!
Ist es Symbol unserer Zeit? - Dann ist es zum Weinen.

Pfarrer Adolf Sommerauer aus München, als er diese Zeilen hörte: "Echte Ironie hat genau wie Brutalität etwas Verführerisches in sich. Solche Worte erinnern mich immer wieder in unangenehmster Weise an die Parolen im 2. Weltkrieg. Da wurde der Tod auch verspottet. Schrecklich so was ... "

Der Münchner Diplompsychologe und Verhaltensforscher Henner Ertel: "Jeder zweite Jugendliche zwischen 14 und 19 hat in seiner Entwicklung eine Phase, wo er sich gedanklich mit Selbstmord beschäftigt. Wenn er dann diese Platte hört, kann er leicht dazu verleitet werden, tatsächlich Selbstmord zu begehen, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte. Eine höchst gefährliche Angelegenheit!"

Schülerstimmen aus der Klasse 9a eines Hamburger Gymnasiums (14-bis 15jährige, die Namen sind der Redaktion bekannt): "In einer verzweifelten Situation könnte es gut sein, dass ich so handeln würde wie Müller-Westernhagen das beschreibt!" - "Übel, dass man so was singt!" - "Ich habe Angst, dass sich Leute diese Meinung zu eigen machen. Wer labil ist, womöglich in Marius einen Guru sieht, kann das leicht missverstehen."

"Wird ein Depressiver zu einer solchen Tat angeregt?"

Auch der Deutsche Kinderschutzbund fragt sich: "Wie reagiert jemand, der stark depressiv gestimmt ist? Wird er womöglich zu einer solchen Tat animiert?" (Geschäftsführer Wilken).

Müller-Westernhagen, der alle Texte seiner Platte selbst "verbrochen" hat, lässt die überall aufkommende Kritik kalt. In einem Interview rechtfertigte er sich: "Als LP-Thema finde ich den Song vollkommen okay. Ich wollte dieses Lied einfach schreiben. Und ich sag ja auch nicht Spring doch schon, sondern es ist die Meute, die das sagt. Ich meine damit auch nicht einfach diesen Mann, der da steht und springt. Wir kommen alle jeden Tag in so eine Situation, dass da einer sagt Spring doch schon. Es hat etwas mit unser aller Situation im Alltag zu tun."

Frage nur: Wer versteht, was der Künstler sagt? Und wer zieht ihn zur Rechenschaft, wenn ihn jemand missversteht? Wer trägt die Verantwortung für diese Unverantwortlichkeit?

"Ich sehe meine Aufgabe darin, Unruhe im stiften"

Den Künstler können Psychoanalytiker mit Erklärungen wie "verbalisierte Wut und Aggression" in Schutz nehmen. Die Plattenfirma (WEA-Musik), die Westernhagens Generaloffensive (Zitat: "Ich sehe meine Aufgabe darin, Unruhe zu stiften. Ich will provozieren - jede Form von Ruhe halte ich politisch für gefährlich...") durch die Veröffentlichung dieser Platte unterstützt, versucht sich erst gar nicht zu wehren. Für sie ist es klar, dass sie sich "ausdrücklich zu einer Position des fairen Wettbewerbs und ethischer Geschäftspraktiken innerhalb der Grenzen der freien Marktwirtschaft bekennen",

WEA-Geschäftsführer Siegfried E. Loch: "Wir bekennen uns zu einer liberalen Position als Mittler zwischen Künstler und seinem Publikum. Bewusst würden wir keine Aussage unserer Vertragskünstler veröffentlichen, die nicht mit dem Geist und dem Wortlaut unseres Grundgesetzes zu vereinbaren sind."

Wo aber, verdammt noch mal, bleibt die Moral? Wo ist die Grenze des guten Geschmacks durchbrochen? Geht es denn wirklich nur noch ums Geldverdienen?

(Alle drei letzten LPs von Marius Müller-Westernhagen wurden "vergoldet", auch dieses "Boxer-Herz" hat schon wieder weit über 100'000 Stück verkauft.)

Kann man denn wirklich noch von einem "Trend" sprechen, auf den die Jugendlichen "abfahren", wenn man Zeilen liest wie

"Warum hab' ich bloss den Bullen erschossen? Er hat mir doch gar nichts getan. Ich war weder stoned, noch war ich besoffen - das Grün brachte mich so in Wahn" (aus dem Müller-Westernhagen-Song "Ich hab' keine Lust mehr, im Regen zu stehen".)

Ist es denn wirklich "ehrlich" und vor allem nötig, dass da jemand singt:

"Lieber Gott, wir brauchen keinen Weltuntergang. Das machen wir schon selber, da fackeln wir nicht lange. Ich bau mir eine Handgranate, und die verschenk ich an Renate. Die zählt dann 1, 2, 3, dann macht es bumm." (Aus dem Müller-Westernhagen-Song "Lieber Gott").

Sind wir blind, dass wir nicht sehen, was gemeint ist?

Sind wir taub, dass wir "Scherz, Satire und tiefere Bedeutung" nicht recht verstehen wollen?

Eine Umfrage bei verschiedenen Rundfunksendern ergab: Diese Müller-Westernhagen-Songs werden auch vom Funk nicht so ohne weiteres "geschluckt".

  • Reinhold Kujawa (NDR): "Vom Band, also ohne Zwischenkommentare, wird die Platte nicht gespielt."
  • Wolfgang Neumann (WDR): "Nur mit entsprechendem Kommentar, oder wenn der Sänger zur Diskussion im Studio wäre."
  • Walter Meier (Bayerischer Rundfunk): "Nur mit Kommentar!"

Versionen

Datum Autor Format Titel Verlag Anmerkungen
1982.11.28 Harald Heinzinger Artikel Ein Liedermacher spielt mit Mord und Selbstmord DE: Bild am Sonntag

Anmerkungen

  • Plattenkritik.