Text "Die Insel Utopia" (Franz Hohler)

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Autor Franz Hohler
Texttitel Die Insel Utopia
Sprache deu
Textform Gedicht
Veröffentlichung 1985

Die Insel Utopia

Utopia ist eine Insel
so weit vom Festland weg
dass sie an klaren Tagen
undeutlich sichtbar wird am Horizont
fast mehr erdenkbar
denn das Meer dazwischen
ist trügerisch und tückisch
wegen seiner grossen Ruhe.

Es ist das Meer des Alltags
des Normalen
das Mittelmeer des Durchschnitts
in dem wir jeden Tag
ein bisschen planschen
immer nah beim Ufer
denn dass die Insel Utopia
beschützt wird
und zwar gut
das wissen wir.

Wer sie erreichen will
der muss durchschwimmen
den Algengürtel der Gewohnheit
zäh und klebrig
der muss weiter draussen trotzen
den Piranhas des Mittelmasses
diesen schnellen Fressern
deren Schmatzen am Fleisch von kühnen Schwimmern
wie Tuscheln tönt und Flüstern
und dann erwartet ihn
das Wattenmeer des Dienstwegs
geeignet
dem Wägsten seinen Richtungssinn zu trüben
oh
und nachher lauert träg und bleiern
das Meer des Schweigens
ein schwarzes Loch
zu welchem sich die Mehrheit ballt
und welches jeden Drachentöter
lautlos
zum Verschwinden bringt
als wär er nie gewesen

und sollte es mal einem
vielleicht durch vorgetäuschtes Schweigen
gelingen zu entkommen
wird er gleich darauf erfasst
VON DEN STRUDELN DER SACHZWÄNGE
oder seine Beine werden
während er vom Ufer her
noch wie ein ganzer Schwimmer wirkt
zerfleddert
von den Haien des Profits

und alles das
bei kleinem Wellengang
kein Sturm
kein Windstoss
keine Wasserhose

nichts
als nur das leise Schwappen
der Vernehmlassungen und Protokolle

und wär es einem doch geglückt
der einen oder andern der Gefahren
zu entrinnen
wird er ganz zuletzt erfasst
vom Mahlstrom des Konsums
er treibt
mit einem Einkaufskörbchen
langsam in die Tiefe
und sein Hilfeschrei
tönt wie ein Werbespot
für eine neue Schokolade
und alle
die an Land sind
freuen sich.
Ach!
Wer auf diese Insel will
Utopia
muss Abschied nehmen
von seinen Lieben
von Haus und Hof und Hypothek
der darf nicht kämpfen
mit den Mitteln des Verstands
und der Berechnung
der muss sich anders rüsten
oder muss ein andrer sein
da braucht's
den Spieler und den Träumer
den
der die Gunst der Tiere hat
und ihre Sprache kann
den dritten Sohn
den Dummling und den Trommler
die vielleicht.

Doch jeder
der
wie wir
die Steuern zahlt

ist schon verloren.

Versionen

Datum Autor Format Titel Verlag Anmerkungen
1987 Franz Hohler Buch Das Kabarettbuch country DE.gif DE: Darmstadt, Neuwied : Hermann Luchterhand S. 196

Anmerkungen

  • Aus dem Programm Der Flug nach Milano (1985).