Text "Jagger" (Wolf Wondratschek)

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Autor Wolf Wondratschek
Texttitel Jagger
Sprache deu
Textform Essay
Veröffentlichung 1971.01.141996.01.29

Jagger

Jagger ist vor allem ein optischer Mythos. Dass man ihn gesehen haben muss, werden nur die verstehen, die ihn einmal auf der Bühne gesehen haben. Eine Definition seiner Stimme wäre die Beschreibung dieses Mundes. Eine Definition seines rock and roll wäre die Beschreibung dieser Bewegungen. Das Gesicht zeigt demonstrativ, welche Wirklichkeit er niederschreit mit seinen Liedern, die bestenfalls von der Möglichkeit träumen, es sei bereits geändert, was verändert werden müsste. Mick Jagger hat den ersten Schrecken eingebüsst zwar, der ihm zur Karriere verhalf; aber plötzlich verwandelte sich seine Hässlichkeit zu übertriebenen Zeichen einer Physiognomie, die sich erotisch nicht mehr aufteilen lässt wie etwas, worauf man je nach Geschlceht mit Empfindungen reagiert.

Mick Jagger wird als Mythos optisch wahrnehmbar in der Figur des arroganten Hermaphroditen: er ist zugleich der freak und das Mannequin. Innerhalb dieser Gegensätze zerschlägt er jenen bürgerlichen Begriff der Obszönität. Da der dritte Sex keine Blossstellung von Fleisch bedeutet, verfällt diese Verführung keinem vorhandenen Anpassungsmuster; genauso wenig ist dieser Sex die logische Euphorie einer Generation, die ihre Angleichung aneinander vermutlich doch bloss in modischen Rivalitäten neutralisieren wird. Wir werden Kinder sein, sagte Jagger, wir werden Kinder haben mit Männern, das ist es, mehr sage ich nicht über Frauen.

Nunmehr spricht Jagger das Wort Revolution nur noch aus, weil er weiss, dass es nur ein Wort ist. Sein Zynismus überdauerte seine Illusion. Er verwandelte die Aggression in ein Verhalten von Subversion. Dies machte ihn den radikalen politischen Gruppierungen (ausserhalb der Popkultur) vollends suspekt: sie lehnen nicht nur den Millionär ab, sondern auch das, was ihn dazu machte: seine Ikonographie.

Mick Jagger ist die Königin der Popstars: sie stellt sich dar als die extreme Verkörperung jener Hypnose, der sein Publikum während seines Auftritts verfällt. Mick Jagger wird insofern auch der Tyrann über seine müde gewordenen politische Ohnmacht. Man muss hier von Publikum sprechen, im gegensatz zum Fan, der heute in der Bundesrepublik keinen Zutritt mehr erhält zu den Konzerten der Rolling Stones<ref>Reihe Hanser, Carl Hanser Verlag 9. Auflage 1978, Titel „Bundespost“ Seite 70</ref>

</references>

Versionen

Datum Autor Format Titel Verlag Anmerkungen
1971.01.14 Wolf Wondratschek Artikel Jagger DE: Frankfurter Allgemeine Zeitung