Rockhörer
Natürlich gibt es "den" Rock sowenig wie "den" Rockhörer - in Wirklichkeit gibt es von ersterem nur eine Vielzahl von unterschiedlichen Stilrichtungen und Klangvarianten, die sich unter den einzelnen Rockgruppen weiter differenzieren. Und es gibt ebenso eine Vielzahl von Hörweisen.
Tibor Kneif unternahm in seinem Buch Rockmusik (1982) den Versuch einer Beschreibung verschiedener Hörertypen:
Der Texthörer achtet besonders auf die sprachliche Botschaft des Rock, der ja zum allergrössten Teil aus vertonten Gedichten besteht, und registriert die Musik dabei eher als Textverzierung. Wichtig ist dabei weniger die literarische Qualität, als vielmehr der allgemeine Stimmungsgehalt der Liedtexte oder gar deren auch in Prosa wiedergebbarer Inhalt. Schlichtem Blues, Protest- und weltanschaulichen Belehrungsliedern wird eine solche Hörhaltung am ehesten gerecht, insbesondere auch der 1960-1865 in den USA blühenden Liedermacher-Szene, in der das musikalische Element über einige sparsame Tonmotive ohnehin nicht hinausging. Zu den Vertretern dieser überwiegend textbezogenen, textbetonten Richtung gehören:
- der frühe Bob Dylan, Donovan ("Universal soldier"), Cat Stevens, Leonhard Cohen ("Suzanne"), Bruce Springsteen
- italienische Belcanto-Rocker wie Lucio Battisti, Angelo Branduardi und Drupi
- die meisten politisch engagierten Gruppen wie die Fugs in New York oder Floh de Cologne in Köln
Der Ressentiment-Hörer ist dem Rock hauptsächlich zugetan, um damit andere zu beeindrucken oder zu schockieren. Mit Hilfe des Rock tobt er feindselige Gefühle, richtungslose Wut und ein gesteigertes Selbstbewusstsein aus. Ein solch blindes Abreagieren von Frustrationen und undurchschauten Gefühlen beschränkt sich dabei nicht auf den Privatbereich, sondern erfüllt auch manche Platten- und Konzertkritiken. Gemäss Kneif lässt sich dieser Hörertyp dann etwa dazu hinreissen, die seichte Popgruppe Abba als "Beatles der siebziger Jahre" und Gegner seiner Meinung als "bemitleidenswerte Geschöpfe" zu bezeichnen.
Der zerstreute Hörer nimmt Rock als eine unspezifische akustische Umhüllung wahr, in der er Zeitung lesen, Schularbeiten machen und Gespräche führen kann. Kneif vermutet in diesem Hörertyp häufig eine "ausgeprägte Ich-Schwäche", dem erst die klangliche Unterstützung zum Selbstvertrauen verhilft. "Die Dauer des ausschweifenden, stundenlangen Musikkonsums verhält sich dabei umgekehrt zur Intensität des Musikerlebens." Als Untergattung wird jener Rockhörer bezeichnet, "der in Gesellschaft Gleichgesinnter einer aufgelegten Schallplatte nicht einmal eine Minute lang still zuhören kann, sondern gesprächig wird, sobald die Musik einsetzt."
Der Motoriker "schüttelt den Kopf energisch nach vorne und nach hinten, er gestikuliert mit seinen Armen und versetzt die nahe Umgebung in rhythmische Erschütterung mit seinen Füssen. Weibliche Konzertbesucherinnen entsprechen dem gleichen Bewegungsdrang mit mehr oder minder anmutigen Körper- und Armgebärden, die an menschenähnliche Gewächse in Zeichentrickfilmen erinnern." Diesem Hörertyp bescheinigt Kneif, "unmittelbaren und zwanghaften Nachvollzug" zu betreiben, obwohl er den "phantasievollen, improvisierten Einzeltanz samt den entsprechenden Begleitgesten" immerhin als bestimmten Gattungen wie Hard Rock, Funk und Rock'n'Roll zugehörig anerkennt.
Der Stimmungshörer