Helmut Salzinger
Deutscher Schriftsteller ; geboren 1935 in Essen (Nordrhein-Westfalen), gestorben 3. Dezember 1993 in Odisheim (Niedersachsen)
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Helmut Salzinger wurde in Essen mitten im Rurgebiet geboren und war ein typischer Stadtjunge: Landaufenthalte langweilten ihn, Gartenarbeit verabscheute er. Nach dem Besuch des Helmholtz-Gymnasiums studierte er in Köln Literaturwissenschaft und promovierte 1967 in Germanistik über die künstlerische Entwicklung des Kritikers Eugen Gottlob Winkler (1912-1936). Anstatt nun eine akademische Laufbahn einzuschlagen begann der ursprüngliche Jazz-Purist Salzinger als Hippie und entschiedener Vertreter der hedonistischen Linken aufzutreten. Schon seit 1966 schrieb er als Buchrezensent und Musikkritiker unter anderem für den Spiegel, die Frankfurter Rundschau und das Feuilleton von Die Zeit.
Getreu Walter Benjamin nutzte er die Literatur- und Musikrezension zur Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Wenig später landete er, bereits den Rolling Stones verfallen, bei Konkret und schrieb dort 1968 einen Text über die "Scheiss-Beatles". Die Beatles hassen? Salzinger konnte das. Als er jedoch im Sommer 1970 zu vermehrten Schwarzpressungen unveröffentlichen Musikmaterials aufrief, verlangte die Redaktion von Die Zeit, er solle sich entweder anpassen oder gehen. Er ging.
Bereits Ende der 1960er Jahre war Salzinger aufs Land gezogen, zuerst nach Nartum (Niedersachsen), bald darauf ins Dorf Odisheim zwischen Elbe- und Wesermündung, wo er zusammen mit seiner Freundin Mo, einer ehemaligen Krankenschwester, den Rest seines Lebens verbrachte. Hier begann er auch als Lyriker hervorzutreten und veröffentlichte Das lange Gedicht (1970), ein Zeitdokument der deutschen Beat-Szene, der auch Rolf Dieter Brinkmann, Jörg Fauser oder Jürgen Ploog zuzurechnen sind.
Sein Buch Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? (1972) gehört zu den ersten wesentlichen Büchern zum Thema Popkultur im deutschen Sprachraum. Salzinger analysierte darin die Musik-, Design-, Kunst-Welt und ihre nur dialektisch zu fassenden Verkaufsstrategien und Wirksamkeiten von Rockmusik als einen die Gesellschaft verändernden Prozess. Er brachte ihre bis heute vorhandene Doppelbödigkeit durch einen ironisch-verzweifelten Blick zur Sprache: "Woodstock Nation bedeutet Verweigerung, bedeutet Abkehr, bedeutet Subversion. Woodstock Nation bedeutet den Bruch mit der bestehenden Gesellschaft, mit ihren Gesetzen, Traditionen, Werten und Normen." Die Text-Collage Swinging Benjamin (1973) war Salzingers Versuch, das Brisante an Walter Benjamins Denken vor dem akademischen Kühlschrank zu bewahren und einer breiten Leserschaft neu zugänglich zu machen. Von 1973-1975 schrieb er unter dem Pseudonym "Jonas Überohr" Kolumnen für die Hamburger Musikzeitschrift Sounds.
Ab Mitte der 1970er Jahre begann er seine Laufbahn als Kritiker aufzugeben und lebte nach dem Vorbild von MC5 oder Grateful Dead mit Musikern in einer Rock-Kommune zusammen. Der Versuch schlug allerdings fehl, da sich die Gruppe bald als "hin und her flippender Haufen von Egomaniacs" herausstellte, der sich "zum alleinigen Zwecke des Schmarotzens zusammengefunden hat", sodass Salzinger sie schliesslich hinauswarf und einen Schlussstrich zog. "Für mich ist die Sache mit der Gegenkultur oder Alternativdingsbums erledigt", schrieb er Trikont-Chef Achim Bergmann. "Ich widerrufe meine Hoffnungen."
Im März 1981 veröffentlichte er in Sounds ein letztes Mal einen Beitrag als "Jonas Überohr" - eine harsche Polemik gegen die "gefrässige Generation" der "jungen Achtziger". Er verurteilt den vermeintlich wohlfeilen popkulturellen Widerstand, der sich um die eigentlichen, nämlich ökologischen Probleme herumdrücke. Als einzig wahre Revolution preist er eine anti-konsumistische, nämlich den Verzicht "auf so gut wie alles in dieser unserer Zivilisationsgesellschaft, was bloss zum Konsum hergestellt wird und zu seiner Herstellung Elektrizität verbraucht." Abschliessend bedauert er, dass "die Alliierten seinerzeit nach der Niederlage Gross-Deutschlands darauf verzichteten, den sogenannten Morgenthau-Plan in die Tat umzusetzen. Hätten sie das gemacht, wir wären heute fein heraus. Deutschland wäre Ackerland mit ein bisschen Handwerk und Klein-Industrie, allenthalben wehte die gesunde Landluft, und wir liefen alle in Holzschuhen herum, und Schweissfüsse gäb's nicht." Sounds veröffentlichte Salzingers eiferndes Öko-Bekenntnis mit einem redaktionellen Kästchen, in dem sich die Zeitschrift deutlich davon distanzierte: Der Text zeige, wie die Überlegungen "ehemals scharfsinniger und wichtiger Leute" allein "dadurch nicht nur antiquiert werden, sondern richtiggehend an der Sache vorbeischiessen, ihr nicht mehr gerecht werden, weil sich eben diese Leute 'ausgeklinkt' haben." Wer "sich entzieht, darf sich nicht wundern, wenn sich Entzugserscheinungen zeigen - auch auf dem Gebiet geistiger Auseinandersetzung."
Salzinger focht das nicht an. Irgendwann erbte er dann eines oder mehrere Häuser in Hamburg, von deren Mieteinnahmen er fortan lebte. In seinem eigenen Bauernhaus zog er sich radikal vom Kulturbetrieb zurück. Neue Grundlage seines Lebens bildete eine ökologisch orientierte Lebensweise. Zusammen mit seiner malenden Frau Mo gründete er das alternative Kulturzentrum "Head Farm Odisheim", das zu Treffen von Literaten und Künstlern der alternativen Szene (darunter Bert Brune, Hadayatullah Hübsch, Theo Köppen, Klaus Modick, Peer Schröder) genutzt wurde. Salzinger nannte das Haus einmal "Überohrs Factory, sein letzter verzweifelter Griff nach der Weltmacht". Dazu durchstöberte er die Zeitung nach Spuren des alltäglichen Wahnsinns, verfolgte vom Garten aus den Vogelflug, rauchte Haschisch, las Thoreau, Castaneda, Pirsig, und dachte sich das handelnde Subjekt weg - in drei Büchern, die Ohne Menschen (1988), Der Gärtner im Dschungel (1992) und Moor (1996) hiessen.
Von 1984-1987 gab er zusammen mit Mo und anderen monatlich die Literaturzeitschrift Falk heraus: Die Themenvielfalt reichte von "Bioregionalismus", Buddhismus und Ethnopoesie über Texte unbekannter Dichter und einige Autorenhefte bis zu Walt Whitmans Tagebüchern, Hölderlins Wahnsinnsgedichten und einer Dokumentation über Rainer Maria Gerhardts verschüttetes Werk und seine in die Zukunft weisende Zeitschrift Fragmente. Mit seinem eigenen Verlag Head Farm Odisheim machte sich Salzinger von den grossen Verlagen unabhängig. Hier erschienen eine Reihe seiner Gedichtbände, die ihn als eigenwillige Stimme in der Lyrik der 1970er und 1980er Jahre erkennen lassen. Florian Vetsch: "Helmut Salzinger repräsentierte wie Rolf Dieter Brinkmann, Hubert Fichte, Wolf Wondratschek, Jürgen Ploog oder Hadayatullah Hübsch die erste deutsche Beat Generation; und Salzinger tut dies auf eine ganz besondere Art, baute er doch den ökologischen Ansatz der ursprünglich US-amerikanischen Bewegung in seiner Poesie, seiner autobiographischen und erzählenden Prosa sowie in seinem theoretischen Werk vielfältig und unverwechselbar aus."
Helmut Salzinger litt schon seit langem an der Zuckerkrankheit und musste jahrelang zweimal die Woche nach Cuxhaven zur Blutreinigung gefahren werden, bis ihm dann in Odisheim ein Blutaustauschgerät zur Verfügung stand. Am 3. Dezember 1993 erlag er 57-jährig seinem langen Leiden. In seinem Nachlass fanden sich noch zahlreiche Gedichte, Essays und autobiografische Prosa. Nach seinem Tod zog Mo Salzinger 1999 nach Ostheim vor der Rhön (Bayern), wo sie im März 2001 bei einem häuslichen Unfall starb. "Sie liebte das Leben sehr", hiess es in ihrer Todesanzeige. Das von ihr mitgebrachte Archiv von Helmut Salzinger wird nun vom dort lebenden Cut-Up-Texter und Verleger Peter Engstler verwaltet.