Text "Jagger" (Wolf Wondratschek): Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 20. März 2011, 17:16 Uhr

Autor Wolf Wondratschek
Texttitel Jagger
Sprache deu
Textform Essay
Veröffentlichung 1971.01.141996.01.29

Jagger

Jagger ist vor allem ein optischer Mythos. Dass man ihn gesehen haben muss, werden nur die verstehen, die ihn einmal auf der Bühne gesehen haben. Eine Definition seiner Stimme wäre die Beschreibung dieses Mundes. Eine Definition seines rock and roll wäre die Beschreibung dieser Bewegungen. Das Gesicht zeigt demonstrativ, welche Wirklichkeit er niederschreit mit seinen Liedern, die bestenfalls von der Möglichkeit träumen, es sei bereits geändert, was verändert werden müsste. Mick Jagger hat den ersten Schrecken eingebüsst zwar, der ihm zur Karriere verhalf; aber plötzlich verwandelte sich seine Hässlichkeit zu übertriebenen Zeichen einer Physiognomie, die sich erotisch nicht mehr aufteilen lässt wie etwas, worauf man je nach Geschlceht mit Empfindungen reagiert.

Mick Jagger wird als Mythos optisch wahrnehmbar in der Figur des arroganten Hermaphroditen: er ist zugleich der freak und das Mannequin. Innerhalb dieser Gegensätze zerschlägt er jenen bürgerlichen Begriff der Obszönität. Da der dritte Sex keine Blossstellung von Fleisch bedeutet, verfällt diese Verführung keinem vorhandenen Anpassungsmuster; genauso wenig ist dieser Sex die logische Euphorie einer Generation, die ihre Angleichung aneinander vermutlich doch bloss in modischen Rivalitäten neutralisieren wird. Wir werden Kinder sein, sagte Jagger, wir werden Kinder haben mit Männern, das ist es, mehr sage ich nicht über Frauen.

Nunmehr spricht Jagger das Wort Revolution nur noch aus, weil er weiss, dass es nur ein Wort ist. Sein Zynismus überdauerte seine Illusion. Er verwandelte die Aggression in ein Verhalten von Subversion. Dies machte ihn den radikalen politischen Gruppierungen (ausserhalb der Popkultur) vollends suspekt: sie lehnen nicht nur den Millionär ab, sondern auch das, was ihn dazu machte: seine Ikonographie.

Mick Jagger ist die Königin der Popstars: sie stellt sich dar als die extreme Verkörperung jener Hypnose, der sein Publikum während seines Auftritts verfällt. Mick Jagger wird insofern auch der Tyrann über seine müde gewordenen politische Ohnmacht. Man muss hier von Publikum sprechen, im gegensatz zum Fan, der heute in der Bundesrepublik keinen Zutritt mehr erhält zu den Konzerten der Rolling Stones<ref>"stoned" heisst ursprünglich soviel wie "drunk" (besoffen); siehe den engl. Ausdruck: a rolling stone gathers no moss ("one, who is always chopping and changing and won't settle down, will never become wealthy", Brewer's Dictionary); der Rocker war (und ist) als Typ nicht der Kiffer, sondern der Biertrinker, der die angestauten Aggressionen nicht sublimieren will, er möchte sie im Gegenteil aktivieren.</ref>. Diese Aussperrung des eigentlich traditionellen Fans: dem bereits historisch gewordenen, in mittleren und kleineren Provinzstädten aufgewachsenen Rocker, der nur scheinbar abgelöst wurde vom Typ des Hippie, ist der Grund, weshalb es noch heute zu Krawallen kommt; es ist nicht die Wirkung der bis zur Unerträglichkeit verstärkten Musik dieser Gruppe.

Es ist deshlab kein Zufall, dass in Altamont, sozusagen beim Zusammenprall des Publikums mit einer Rockerbande, ein Mord geschah; man müsste ihn als den bisher einzigen politischen Popmord verstehen<ref>siehe: "let it bleed : die Rolling Stones in Altamont", herausgegeben von S. Schober; Reihe Hanser 45.</ref>, als ein Geschehen, dessen wirkliches Motiv in der Erfolgsgeschichte von Mick Jagger zu suchen ist.

Mick Jagger ist das Bild eines Konflikts, dessen Ursachen in der bestehenden (gegenwärtigen) Gesellschaft endlich erotisch begriffen werden. Als Bildinhalt aber ist er subversiv, weil er sich nicht verwenden lässt für die Gesinnung des "love and peace"; niemand kann ihn dazu benutzen, sich auf Festivals gegenseitig so umfangreich wie nur möglich in die nackten Arme zu fallen; er produziert keine Stimmung für naive Zeltlager: Altamont korrigierte den viel zitierten Mythos von Woodstock als moralische Idee. Für Mick Jagger ist das Publikum eine quantitative Grösse, er hebt sich ab davon durch vollkommenen Mangel an Sentimentalität. Mick Jagger wird nicht zum Liebling jener Massen, die allen fünf Musikern der Rolling Stones zujubeln wie Lieblingen. Von ihm rdet man wie von einer Sehenswürdigkeit, die selten besichtigt werden kann.

Heute produziert sein Zynismus gerade socvviel extravaganten Irrsinn, dass sein Publikum, das ihm zusieht, vielleicht glauben mag, man könne die Welt auch mit Spucke abschaffen. Das Popgeschäft lebte (und lebt) ja bevorzugt vom Geschäft mit der Verwechslung<ref>In der amerikanischen Szene ist diese Verwechslung wesentlich gründlicher ritualisiert. So definierte die amerikanische Gruppe MC5 ihre Musik als Töne des politischen Selbstverständnisses der (militanten) Hells Angels. So stehen, wie dort behauptet wird, die Gruppen des Politrock in der politischen Front ganz vorne, z. B. The Fugs: ihr Markenzeichen ist der offen deklarierte Anarchismus.</ref>.

Popmusik passt mittlerweile gut und sogar ausgesprochen gern in jedes x-beliebige , auch anständig genannte Tanzlokal; wir kennen dieses Gefühl: inzwischen verändern sich unsere Hände zu kleinen Kaninchen und über unsere Fäuste wuchern die selbstgezogenen Topfpflanzen; es ist geradezu unglaublich (und unheimlich), dass sich Manson auf einen Song der Beatles berief, als er seine Messerstechereien vor Gericht ideologisch zu rechtfertigen versuchte, zu einem zeitpunkt, wo der beatle nur die bürgerliche Karikatur jenes Schreckgespenstes noch darstellt, als das er vor Jahren einmal verteufelt und beschimpft wurde.

Mick Jagger ist ein Mythos als Sänger, nicht als Plattenstar. Und das unterscheidet ihn so sehr von allen anderen Musikern dieser Gruppe. Während die übrigen "Steine" so versteinert dastehen wie die Portale jener englischen Banken, auf denen ihr Geld deponiert liegt, bewegt sich Mick Jagger, er allein bewegt sich, und das heisst: er bewegt sich allein, er inszeniert die show des Auftritts, indem die Instrumente seinen Fanatismus mithilfe riesiger Lautsprecher akustisch rhythmisiert verdeutlichen<ref>Das ist es, was man ihm und den anderen Stones besonders vorwirft im Konzert, dass sie ihre Auftritte vorbereiten, dass sie ihr Kommen fast zelebrieren durch das stundenlange Warten auf ihren Auftritt; die sogenannte "Einheizergruppe" vor ihrem Erscheinen gibt den Rahmen her, indem sie die Rolling Stones dann als die Grösseren verewigen. das so gelenkte Publikum wird dadurch ganz und gar bereit, "das wirklich zu sehen, worauf man es warten lässt", wie es Roland Barthes am Beispiel des Predigers Billy Graham beschrieb. Der Auftritt gehört selbst zum Mythos des Auftretenden.
Aber das ist nur eine relativ beiläufige Erklärung der optischen Erscheinungsweise dieser Gruppe, eher ihre offizielle Fassade. Dagegen wäre zu erinnern an Jean Luc Godards Film One plus one: er hat die Rolling Stones (und vor allem Mick Jagger) während der Arbeit im Studio gefilt; hier zeigt sich, wie wenig der optische Mythos angewiesen ist auf die aggressive Künstlichkeit von Scheinwerfern und jenem architektonischen Verhältnis der Bühne zum Parkett. Sein Film belegt sehr genau, wie falsch es wäre, Mick Jagger als das Geschäft mit der Popmusik zu verstehen; er ist überdies ein Beitrag zur Interpretation der Figur Jaggers als Hermaphrodit: auch darin wäre One plus one als ansonsten politisch gemeinter Film politisch.</ref>, er spricht mit dem Publikum, während er singt, und er bestimmt jede Beschleunigung dieser Gruppe, in deren Name das Prinzip der Geschwindigkeit formuliert ist. Seine (in der Pose des Steptänzers) dargestellte Energie ist keine sich bloss energisch gebärdende Selbstgefälligkeit, sie lässt sich nicht ausborgen beim Beefsteak. Auch Drogen können die Erscheinungsweisen dieses Zwitters nicht erzwingen. Der Mythos ist seine Identität. Dagegen würde sich Rudolf Nurejew (als das vergleichsweise kapitalistische Lustobjekt) ausnehmen wie ein von zuviel Ballett gemästeter Casanova.

Wer den Mythos so versteht, wird das Geld (in der Form des Reichtums) anders verbuchen. Mick Jagger verweist hierauf eher beiläufig durch Kostümierung: was er im 18. Jahrhundert wie aus einem Fundus hervorkramt, macht die Figur im 20. Jahrhundert zu Geld. In der Suggestion von Verkleidung und Entkleidung erzeugt er im hinschauenden Zuhörer das Gefühl einer Abenteuersituation, die allerdings mit Strassenkampf, siehe "Street fighting man", nichts zu tun hat; es war ein Missverständnis, Jaggers Gewalt als die Gewalt des Kampfes zu definieren; er randaliert, während er seinen Zylinder schwenkt; den Striptease vollzieht er schreiend mit dieser Stimme, die seinen Bewegungen widerspricht; seine Obszönität erscheint sowohl gewalttätig wie auf eine unablässig anachronistische Weise kultiviert. In diesem Sinn sind auch seine Tourneen wie perverse Staatsbesuche organisiert.

Mick Jagger wird vor allem als diese Figur in die Geschichte des gesungenen Protests eingehen; nicht als Protestsänger wie Bob Dylan oder als irgendwie bedeutender Popkomponist (die Musik der Rolling Stones erscheint geradezu konservativ: sie ist von ihnen nie weiterentwickelt worden).

Wie jeder Mythos ist Mick Jager ein Zufall, der sich auf diese Epoche der Popmusik nicht reduzieren lässt wie das Idol; von der Sorte gibt es viele, und deren Mischung besorgt der Markt. Lieblingsfiguren entstehen auf diese Art fast halbjährlich. Demgegenüber ist der Zufall eine primitive, erste Form der Utopie, ihre unterste Stufe gewissermassen. Mick Jagger überspringt so die überschaubare Folgerichtigkeit dieser Popszene, deren eigenes Idol vom Idol im Abbild des Gitarristen (J. Hendrix) selbst ikonographisch fortbesteht.

<references />

Versionen

Datum Autor Format Titel Verlag Anmerkungen
1971.01.14 Wolf Wondratschek Artikel Jagger DE: Frankfurter Allgemeine Zeitung
1972 Wolf Wondratschek Buch Omnibus DE: München
1982 Wolf Wondratschek Buch Früher begann der Tag mit einer Schusswunde und andere Prosa DE: München : Deutscher Taschenbuch Verlag
ISBN 3-423-06318-1
S. 216-220