Wenedikt Wassiljewitsch Jerofejew/Die Reise nach Petuschki: Unterschied zwischen den Versionen
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<font color=red>Der Oberschaffner Semjonytsch, dessen Interesse ich zum tausendundeintenmal geweckt hatte, flog halb lebendig und halb nackt auf den Bahnsteig hinaus und schlug mit dem Kopf am Geländer auf. Zwei oder drei Sekunden blieb er noch auf den Beinen stehen, nachdenklich und schwankend, wie ein Schilfrohr im Wind, und dann brach er vor den Füssen der aussteigenden Passagiere zusammen. Alle Strafen für fahrscheinlose Fahrten brachen aus seinem Schädel hervor und zerflossen am Bahnsteig...</font> | <font color=red>Der Oberschaffner Semjonytsch, dessen Interesse ich zum tausendundeintenmal geweckt hatte, flog halb lebendig und halb nackt auf den Bahnsteig hinaus und schlug mit dem Kopf am Geländer auf. Zwei oder drei Sekunden blieb er noch auf den Beinen stehen, nachdenklich und schwankend, wie ein Schilfrohr im Wind, und dann brach er vor den Füssen der aussteigenden Passagiere zusammen. Alle Strafen für fahrscheinlose Fahrten brachen aus seinem Schädel hervor und zerflossen am Bahnsteig...</font> | ||
Fast wird Wenitschka selber von den Aussteigen mitgerissen, von den Einsteigenden wieder zurückgerissen - <font color=red>" | Fast wird Wenitschka selber von den Aussteigen mitgerissen, von den Einsteigenden wieder zurückgerissen - <font color=red>"hin- und hergeschleudert wie ein Stück Scheisse im Abfluss."</font> Schliesslich kann er sich ins Wageninnere retten, lässt sich auf die erste Sitzbank gleich neben der Tür fallen, erfühlt in seiner Tasche eine unversehrte Flasche Kubanskaja und nimmt fünf oder sechs Schluck. | ||
<font color=red>Erst dann liess ich die Ruder sinken und gab mich dem gewaltigen Strom der Phantasien und trägen Schläfrigkeit hin...</font> | <font color=red>Erst dann liess ich die Ruder sinken und gab mich dem gewaltigen Strom der Phantasien und trägen Schläfrigkeit hin...</font> |
Version vom 24. September 2009, 00:11 Uhr
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Wenedikt Jerofejew beschrieb "Die "Reise nach Petuschki" 1969 in seinem Roman Москва - Петушки (1973). Neugierig geworden machten im Dezember 2006 auch wir die Reise und einige Fotos davon, damit man sich etwas besser vorstellen kann, wovon der Autor schreibt. Oder einfach als Zugabe und Erinnerung, je nach dem.
Das Buch enthält ausser der Vorbemerkung des Autors 44 Kapitel, welche nach bestimmten Örtlichkeiten odere Fahrtstrecken auf besagter Reise nach Petuschki betitelt sind. Ich habe die Kapitelüberschriften hier nach dem russischen Original gesetzt und gleich darunter in fetter Schrift jeweils zuerst die Überschrift in der deutschen Übersetzung von Natascha Spitz (1978) und anschliessend diejenige der Übersetzung von Peter Urban (2005).
Gemäss Buch wurde Wenitschka vor einer Woche von seinem Brigadiersposten gefeuert, den er vier Wochen innehatte. Nun befindet er sich auf dem Weg nach Petuschki, und der beginnt natürlich in Moskau.
Москва. На пути к Курскому вокзалу
Moskau. Auf dem Weg zum Kursker Bahnhof / Moskau. Unterwegs zum Kursker Bahnhof
Wenitschka trinkt:
- 1 Glas Subrowka auf dem Sawelowskij-Bahnhof ("da als morgendliches Dekokt noch nichts besseres erfunden wurde")
- 1 Glas Korianderschnaps auf der Kaljajewskajastrasse ("die Seele erstarkte in höchstem Grade, während die Glieder schwach wurden")
- 2 Krüge Shiguli-Bier sowie 1 kräftiger Schluck Alb-de-dessert (wegen der "inhumanen Wirkung" des Korianderschnapses)
Weiter weiss Wenitschka nicht mehr, was er getrunken hat, aber er erinnert sich ganz deutlich an:
- 2 Gläser Jägerschnaps auf der Tschechowstrasse ("Zwischen den beiden war eine Pause von dreissig Sekunden")
- unbekannte Getränke für 6 Rubel ("... ich konnte auf keinen Fall den Ring Sadowoje Kolzo überquert haben, ohne vorher noch etwas getrunken zu haben. Also muss ich noch irgendwas getrunken haben." - "Ich habe eben nachgerechnet, dass ich von der Tschechowstrasse bis zu diesem Treppenhaus für weitere sechs Rubel gesoffen habe, aber was und wo habe ich gesoffen? War es zu meinem Wohl oder Übel? Das weiss niemand, und jetzt wird es auch niemand mehr erfahren.")
Москва. Плошадь Курского воксала
Moskau. Platz des Kursker Bahnhofs / Moskau. Platz vor dem Kursker Bahnhof
Москва. Ресторан Курского воксала
Moskau. Restaurant des Kursker Bahnhofs / Moskau. Restaurant des Kursker Bahnhofs
Wenitschka wird nicht bedient ("Es gibt nichts Alkoholisches!" - dafür gibt es "Boeuf Stroganoff, Torte, Euter..."). Anstatt mit den bestellten 800 Gramm Sherry bedient zu werden, wird er hinausgeworfen.
Москва. К поезду через магазин
Moskau. Zum Zug mit Umweg über das Geschäft / Moskau. Zum Zug durch das Geschäft
Aktuelle Vorräte |
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Wenitschka kauft ein:
- 2 Flaschen Kubanskaja ("zu je zwei zweiundsechzig")
- 2 Viertel Rossijskaja ("zu je einem Rubel vierundsechzig")
- einen hochprozentigen Rosé ("für einen Rubel siebenunddreissig")
- 2 belegte Brote ("um nicht kotzen zu müssen")
"Hätte ich mehr Geld, hätte ich noch Bier und ein paar Portweine genommen, aber so..."
Москва - Серп и Молот
Moskau - Hammer-und-Sichel / Moskau - Hammer und Sichel
Ich nahm aus dem Köfferchen alles heraus, was ich hatte, und befühlte es. Angefangen vom belegten Brot bis zum hochkarätigen Rosé für einen Rubel siebenunddreissig. Ich befühlte es und empfand plötzlich eine fürchterliche Qual, die mich erblassen liess. Mein Gott, da siehst Du, was ich besitze. Aber brauche ich denn das? Sehnt sich denn mein Herz danach? Das also haben mir die Leute gegeben als Ersatz für jenes, wonach mein Herz sich sehnt! Hätten sie mir jenes gegeben, würde ich dann das noch brauchen? Sieh, Herr: der hochprozentige Rosé für einen Rubel siebenunddreissig...
Und der Herr, von blauen Blitzen umzuckt, antwortete mir: "Wozu braucht denn die heilige Theresia ihre Stigmata? Die braucht sie doch schliesslich auch nicht. Aber sie wünscht sie sich."
"Ganz genau, ganz genau", antwortete ich begeistert. "So auch bei mir, ich wünsche es mir, aber brauchen tu ich es überhaupt nicht!"
Mit einem Viertelchen Rossijskaja, einem Glas und einem belegten Brot begibt sich Wenitschka hinaus auf die Plattform.
Teile mit mir die Tafel, o Herr.
Серп и Молот - Карачарово
Hammer-und-Sichel - Karatscharowo / Hammer und Sichel - Karačarovo
Und ich trank unverzüglich.
Карачарово - Чухлинка
Karatscharowo - Tschuchlinka / Karačarovo - Čuchlinka
Ihr seht selbst, wie lange ich nach dem Trinken Grimassen schneiden musste, um den Brechreiz zu unterdrücken, wie lange ich fluchen und des Teufels Grossmutter anrufen musste. Waren es fünf Minuten, waren es sieben Minuten oder war es eine ganze Ewigkeit, während ich von Wand zu Wand torkelte, die Hand an der Gurgel, und Gott anflehte, mich zu verschonen.
Schliesslich kehrt Wenitschka unter den teilnahmslosen Blicken der Passagiere von der Plattform ins Abteil zurück, fühlt sich glücklich, unter den Blicken solcher Augen geboren und zum Mann herangereift zu sein. Dann entdeckt er rechts am Fenster zwei Gestalten: ein ganz, ganz Stumpfsinniger mit Joppe und ein ganz, ganz Gescheiter im Covercoat:
Bitte sehr, die schenken ein und trinken, ohne sich im geringsten zu genieren. Die rennen nicht auf die Plattform hinaus, verrenken sich nicht die Hände. Der Stumpfsinnige kippt einen, grunzt und sagt: "Ah! Die rinnt wie geölt, die Pisse!" Dann der Gescheite, kippt einen und sagt: "Trans-zen-den-tal!" Und mit so feierlicher Stimme!
Wenitschka erinnert sich plötzlich, wie er so vor zehn Jahren nach Orechowo-Sujewo zog, wo er im bezogenen Zimmer der fünfte war. Doch man begann ihn plötzlich irgendwie zu meiden, tuschelte heimlich, sah ihm nach, wenn er wo hinging. Es kam der Abend, an dem er begriff, was los war und was das sollte.
Чухлинка - Кусково
Tschuchlinka - Kuskowo / Čuchlinka - Kuskovo
Es gefiel seinen Mitbewohnern nicht, dass er nicht hinter den Busch ging.
"Nein, Kinder, ihr habt mich falsch verstanden..."
"Nein, wir haben dich richtig verstanden..."
"Nein, eben nicht. Ihr habt mich nicht verstanden.. Ich kann doch nicht so wie ihr vom Bett aufstehen und lauthals verkünden: 'So, Kinder, ich geh ...keln!' Oder: 'So, Kinder, ich geh ...sen!' Das kann ich doch nicht..."
Sein Unvermögen fand kein Verständnis und so ging Wenitschka schliesslich sogar auf die Toilette, ohne wirklich zu müssen, wobei er selber nicht versteht, warum Gott ihn mit soviel Keuschheit ausgestattet hat. Schon in Pawlowo stellte man ihn den Damen mit der Bemerkung vor, dass er in seinem ganzen Leben noch keinen einzigen Furz gelassen habe. Zwar fühlt er sich schon seit ganzes Leben missverstanden, anstatt das Thema aber noch bis Petuschki weiter zu erörtern, will er nur noch einen einzigen Fall erzählen: wie man ihn vor einer Woche wegen "Einführung eines anstössigen Systems persönlicher Diagramme" von seinem Brigadiersposten entfernt hat.
Doch wo sind wir eigentlich gerade...?
Kuskowo! Wir preschen durch Kuskowo ohne Aufenthalt.
Кусково - Новогиреево
Kuskowo - Nowogirejewo / Kuskovo - Novogireevo
Vor einer Woche haben sie mich vom Brigadiersposten gefeuert, den sie mir vor fünf Wochen zugewiesen hatten.
Vor meiner Zeit sah unser Produktionsprozess folgendermassen aus: morgens setzten wir uns hin und spielten Sika, um Geld (könnt ihr Sika spielen?). So. dann standen wir auf, rollten das Kabel von der Trommel und verlegten es unter der Erde. Danach ging es weiter wie bekannt: wir setzten uns wieder hin, und jeder schlug die Freizeit auf seine eigene Art und Weise tot, denn immerhin hat jeder seine eigenen Wünsche und sein individuelles Temperament: der eine trank Wermut, ein anderer, etwas Einfacherer, Eau de Cologne "Frische", und einer mit höheren Ansprüchen sass auf dem internationalen Flughafen Scheremetjewo und trank Cognac. Dann legten wir uns schlafen.
Eine Zeitlang lief alles grossartig.
O Freiheit und Gleichheit! O Brüderlichkeit und Schamrotzertum! O Wonne, keiner Rechenschaft zu unterliegen! O glückseligste Zeit im Leben meines Volkes - o Zeit zwischen Öffnung und Schliessungd er Geschäfte!
Wir legten alle Scham und weitere Sorgen ab und lebten nur noch für geistige Werte.
So diskutierten sie über Israel und die Araber. Und dann gab Wenitschka ihnen die Ballade "Nachtigallengarten" (1915) von Alexander Blok (1880-1921) zu lesen.
Im Mittelpunkt des Poems steht eine lyrische Figur, ein Mann, der wegen Trunksucht, Hurerei und Arbeitsbummelei entlassen wurde. Ich sagte ihnen: "Dieses Buch ist genau das richtige für euch, ihr werdet grossen Nutzen daraus ziehen." Nun, sie lasen es. Aber entgegen allen Erwartungen wurden sie davon nur noch blöder. Gleich darauf war aus allen Geschäften die "Frische" verschwunden. Unverständlich warum, aber vergessen war die Sika, vergessen der Wermut, vergessen der internationale Flughafen Scheremetjewo. Es triumphierte die "Frische", alle tranken nur noch "Frische".
Новогиреево - Реутово
Nowogirejewo - Reutowo / Novogireevo - Reutovo
Die Herstellung der berüchtigten "persönlichen Diagramme" war ganz einfach:
Auf Velinpapier werden mit schwarzer Tusche zwei Achsen aufgemalt - eine horizontale und eine vertikale. Entlang der horizontalen Achse werden systematisch alle Arbeitstage des abgelaufenen Monats eingetragen und entlang der vertikalen das Getrunkene in Gramm, umgerechnet auf reinen Alkohol. Berücksichtigt wird natürlich nur das, was während der Arbeitszeit und davor getrunken wurde, denn das was abends getrunken wird, ist eine Grösse, die für alle mehr oder weniger konstant ist und für eine ernsthafte Untersuchung nicht von Interesse sein kann.
Nun, und das ist euer ergebener Diener, Exbrigadier der Telefonkabel-Montagemannschaft und Auto des Poems "Moskau-Petuschki":
Leider wurden diese "persönlichen Diagramme" eines Tages versehentlich von Alexej Blindjajew, Mitglied der KPdSU seit 1936, aus Dämlichkeit oder im Suff ins gleiche Kuvert wie die Liste der Zielsetzungen im sozialistischen Wettbewerb gesteckt und an die Verwaltung geschickt. Von dort kam man sogleich angefahren.
Was entdeckten sie, als sie in unser Kontor eindrangen? Sie entdeckten nichts, ausser Lecha und Stassik. Lecha lag zusammengerollt auf dem Boden und döste, und Stassik kotzte.
Sogleich gab man Wenitschka den Abschied, an seiner Stelle wurde Alexej Blindjajew eingesetzt. Nach einem kurzen Gespärch mit den Engeln, sprach Wenitschkas goldenes Herz:
"Man hat dich gekränkt, man hat dich behandelt wie ein Stück Scheisse. Geh, Wenitschka, und besauf dich. Steh auf und geh dich besaufen wie ein Schwein."
Реутово - Никольское
Reutowo - Nikolskoje / Reutovo - Nikolskoe
Fünf Tage trank ich ich täglich eintausendfünfhundert Gramm, um es zu Hause auszuhalten, und hielt es trotzdem nicht aus. Am sechsten Tag war ich nämlich schon so aufgeweicht, dass die Grenze zwischen Verstand und Herz verschwunden war, und beide mir einstimmig einhämmerten: "Fahr nach Petuschki, fahr doch! Petuschki - das ist deine Rettung und deine Glückseligkeit. Fahr los!"
Petuschki - das ist ein Ort, wo die Vögel nicht aufhören zu singen, weder am Tage noch bei Nacht, wo sommers wie winters der Jasmin nicht verblüht. Die Erbsünde, wenn es sie gegeben hat, tangiert dort niemanden. Sogar die, die wochenlang nicht nüchtern werden, behalten dort ihren klaren, unergründlichen Blick...
Jeden Freitag, Schlag elf, erwartet mich auf dem Bahnsteig dieses Mädchen von weisser, fast fahler Farbe - diese Favoritin unter den Flittchen, diese weissblonde Teufelin. Und heute ist Freitag.
Rotblonde Wimpern, zur Erde gesenkt, wogende Formen, ein Zopf, der vom Nacken bis zum Hintern reicht. Und nach dem Bahnsteig - Kräuterschnaps und Portwein, Entzücken und Krämpfe, Glückseligkeit und Zuckungen. Himmlische Mutter, wie weit ist es noch bis Petuschki!
Ich muss einen Schluck Kubanskaja trinken, um in Stimmung zu bleiben.
Ich stand auf, na bitte, ich stand auf und ging durch das ganze Abteil hinaus auf die Plattform. Ich setzte an und trank, und zwar nicht mehr so, wie auf der Höhe von Karatscharowo: ohne Brechreiz und ohne belegtes Brot. Ich trank jetzt aus der Flasche, den Kopf nach hinten geworfen wie ein Pianist, im Bewusstsein dessen, was erst begann und noch bevorstand.
Никольское - Салтыковская
Nikolskoje - Saltykowskaja / Nikolskoe - Saltykovskaja
Diese dreizehn Schlucke werden dir nicht zur Freude gereichen, dachte ich, während ich den dreizehnten Schluck nahm. Du weisst doch selbst, dass die zweite morgendliche Dosis, wenn man sie aus der Flasche trinkt, schwer auf der Seele liegt, wenn auch nicht für lange, nur bis zur dritten, aus dem Glas getrunkenen Dosis, aber immerhin.
Wann hast du eigentlich zum ersten Ma bemerkt, Wenitschka, dass du ein Idiot bist?
Alles, worüber ihr redet, alles, was euch tagtäglich beschäftigt, ist mir unendlich fremd. Ja, und darüber, was mich beschäftigt, darüber werde ich nie und niemandem ein einziges Wort sagen. Vielleicht aus Angst, für verrückt erklärt zuw erden, vielleicht aus sonst einem Grund, jedenfalls - kein Wort.
Nach einigen Erläuterungen zum "Weltschmerz", den er im Herzen trägt, und womit er sich das Recht zum Wodkatrinken verdient hat, ergeht sich Wenitschka auch noch in Betrachtungen über die unaussprechlich langweilige und auch leichtsinnige Fürstin im Gemälde "Untröstlicher Kummer" von Iwan Kramskoj (1837-1887).
Trinken wir auf das Verstehen - den ganzen Rest Kubanskaja, aus der Flasche, trinken wir unverzöglich.
Seht her, wie man das macht...!
Салтыковская - Кучино
Saltykowskaja- Kutschino / Saltykovskaja - Kučino
Sogleich hört Wenitschka wieder die Engelsstimmen ("Warum hast du alles ausgetrunken, Wenja? Das war zuviel...") und gibt zu, dass er letzten Freitag sein Söhnchen nicht besuchen ging. Vorletzten Freitag hingegen, als sein Söhnchen krank war, setzte er sich an sein Bett und trank drei Gläser Zitronenschnaps, da wachte das Söhnchen auf und Wenitschka machte ihm Mut:
"Du wirst wieder aufstehen, mein Junge, und wieder zu meiner 'Ferkelchen-Farandella' tanzen. Weiosst du noch wie du getanzt hast, als du zwei Jahre alt warst? Die Musik stammte von deinem Vater und die Worte auch: 'Es tanzen kleine Ferkelchen in unserm Haus herum, sie kratzen dich, sie beissen dich, sie pieksen in das Bäuchlein dich...' Du hattest eine Hand abgestützt, in der anderen schwenktest du ein Taschentüchlein und hüpftest herum wie ein Depp im Kleinformat... 'Ich heulte schon seit Februar voll Zittern und voll Bangen, und eines schönen Sommertags bin ich dann hops gegangen...'"
Кучино - Железнодороьная
Kutschino - Shelesnodoroshnaja / Kučino - Železnodorožnaja
Doch zuerst trotzdem zu ihr. Zuerst - zu ihr! Sie sehen auf dem Bahnsteig, mit dem Zopf vom Nacken bis zum Hintern, und vor Erregung glühen, entflammen und trinken, trinken.... bis zum Umfallen. Und weiden, zwischen Lilien weiden - solange bis du vergehst!
Dieses Mädchen ist weiss Gott kein Mädchen! Diese Verführerin ist kein Mädchen, sondern eine Balade in A-bemoll-Dur! Diese rothaarige Furie - das ist keine Frau, das ist Zauberei! Ihr werdet fragen: Wo hast du die bloss ausgegraben, Wenitschka, wo kommt sie her, diese rothaarige Schlunze? Kann es denn in Petuschki überhaupt etwas Brauchbares geben?
Vor zwölf Wochen lernte er sie kennen, an irgendjemandes Geburtstag.
Es waren noch zwei Mannsbilder da und drei schielende Kreaturen, eine besoffener als die andere, ein unbeschreibliches Tohuwabohu und wildes Gegröle. Sonst war da nichts mehr, glaube ich.
Wenitschka begann dann Wodka der Marke Rossijskaja mit Shiguli-Bier zu mixen, als ihn eine der Kreaturen ansprach und er ein Blackout erlitt.
Jedenfalls kam ich nach ungefähr drei Stunden zu mir und fand mich in folgender Situation: ich sitze am Tische, mixe und trinke.
Und ausser uns beiden - niemand. Sie sitzt neben mir und lacht mich aus, wonnig wie ein Kind. Ich dachte: Ein unerhörtes Weib.
Schamlos wie ihr seid, werdet ihr jetzt natürlich fragen: Und, Wenitschka, hast sie...? Was soll ich euch darauf antworten? Klar hat sie...! Wäre ja noch schöner, wenn sie nicht... hätte! Sie hatte mir ganz frei heraus gesagt: "Leg deinen rechten Arm gebieterisch um meine Schulter!"
Dann kam sie wieder zum Tisch und trank, ex, noch hundertfünfzig Gramm, denn sie war vollkommen, und der Vollkommenheit sind keine Grenzen gesetzt...
Железнодороьная - Черное
Shelesnodoroshnaja - Tschornoje / Železnodorožnaja - Černoe
Sie trank aus und warf irgendwas Überflüssiges von sich ab. Wenn sie, dachte ich, wenn sie jetzt über das Überflüssige hinaus auch noch das abwirft, was darunter ist - Himmel und Erde würden erbeben. "Nun, Wenitschka", sagte sie, "wie findest du meine ...?" Ich wurde ganz schwach in den Knien vor Verlangen und wartete mit zugeschnürter Kehle auf die Sünde. "Genau dreissig Jahre bin ich auf der Welt", sagte ich ihr, "aber noch nie habe ich erlebet, dass jemand so schöne ..."
Fehlende Erfahrung mit Betrunkenen sowie der Gedanke daran, dass Jean-Paul Marat (1743-1793) mit einem Federmesser von einer Frau erstochen wurde, verhinderten jedoch ein sofortiges Nutzen der Gelegenheit:
Einerseits gefällt es mir, wie schon Karl Marx, dass sie so schwach sind und beim Pinkeln in die Hocke gehen müssen. Das gefällt mir, das weckt in mir, ja, was weckt das in mir? "Zärtlichkeit" oder so was? Ja, richtig, das weckt Zärtlichkeit in mir. Aber andererseits haben sie mit dem Revolver auf unseren Wladimir Iljitsch geschossen! Auch das erstickt wieder jegliche Zärtlichkeit. Meinetwegen, sollen sie in die Hocke gehen, aber warum auf Lenin schiessen?
Glücklicherweise ergriff dann aber sie die Initiative.
Mir wurde heiss und kalt, und dann vermischte sich alles: Rosen und Lilien, das Tor zum Garten Eden, feucht und bebend, und ganz und gar umrankt von kleinen, flaumigen Löckchen, Besinnungslosigkeit und rotblonde Wimpern. O zuckender Schlund des Lebens! O schamlose Plüschaugen! O Metze mit Augen wie Wolken! O wonnig-süsser Nabel!
Das Schönste an ihr sind allerdings ihre Arme, das muss man sagen. Besonders dann, wenn sie mit ihnen herumfuchtelt, begeistert lacht und sagt: "O Jerofejew, du Hurenbock, du verkommener!" Diese Teufelin. Wie sollte man so eine nicht einatmen?
Auf seine Werbung von wegen das ganze Leben zusammenbleiben mochte sie allerdings bisher nicht eingehen und zeigte ihm stattdessen den Vogel.
Aber heute - heute wird es sich entscheiden, weil heute Freitag der dreizehnte an der Zahl ist.
Черное - Купавна
Tschornoje - Kupawna / Černoe - Kupavna
Ich begann, erregt auf der Plattform hin- und herzulaufen, schrecklich erregt und rauchte...
Nach alledem behauptest du noch, dass du einsam und unverstanden bist? Du, der so viel im Herzen trägt, so viel und noch mehr! Du, der so eine in Petuschki hat! Und so einen hinter Petuschki! ... Du bist einsam? ...
Gut, Wenitschka ist also nicht einsam, jetzt nicht mehr. An seinem zwanzigsten Geburtstag, ja. Da weinte er beim Anblick einer geschenkten Büchse Kohlrouladen. Und an seinem dreissigsten ebsenso, doch beim Anblick der zwei Büchsen gefüllten Tomaten konnte er nicht mehr weinen. Nicht dass er verroht oder verbittert gewprden wäre, eher das Gegenteil. Aber weinen konnte er trotzdem nicht mehr.
Warum? Am besten lässt sich das an einem Vergleich aus der Welt der Schönen erklären. Nehmen wir folgendes Beispiel: Wenn ein stiller Mensch siebenhundertfünfzig Gramm trinkt, wird er froh und verwegen. Und wenn er dann noch siebenhundert trinkt? Wird er davon fröhlicher? Nein, er wird wieder still. Oberflächlich könnte man sogar meinen, er sei wieder nüchtern. Doch bedeutet das, dass er tatsächlich nüchtern ist? Keineswegs. Er ist besoffen wie ein Schwein, und deshalb ist er still.
Genauso geht es mir. Ich bin in diesen dreissig Jahren weder weniger einsam geworden, noch bin ich verroht, ganz im Gegenteil. Aber oberflächlich betrachtet - ja... Doch jetzt heisst es endlich - leben! Und es ist ganz und gar nicht langweilig zu leben!
Mag das Leben für Gogol und König Salomon langweilig gewesen sein, doch für Wenitschka gibt noch so viele Geheimnisse, soviele Abgründe an Unerforschtem.
Man muss morgens, gleich wenn man aufwacht, irgendwas trinken, nein, falsch, nicht "irgendwas", sondern genau das was man am Vorabend getrunken hat. Man muss mit Pausen von vierzig oder fünfundvierzig Minuten trinken, und zwar soviel, dass man am Abend zweihundertfünfzig Gramm mehr intus hat als am Vorabend. Auf diese Weise wird man weder Benommenheit, noch Verlegenheit spüren und im Gesicht so weiss ein, als hätte man schon ein halbes Jahr lang keine Schläge mehr in die Fresse gekriegt.
Leider fehlt es der heutigen hohlköpfigen Jugend an Elan und Initiative.
Was könnte zum Beispiel edler sein, als an sich selbst zu experimentieren? Als ich in deren Alter war, pflegte ich es so zu machen: am Donnerstagabend trank ich in einem Zug dreieinhalb Liter Wodka mit Bier aus und ging schlafen, ohne mich auszuziehen. Ich hatte dabei nur einen einzigen Gedanken: Werde ich am Freitagmorgen aufwachen oder nicht?
Aber am Freitagmorgen wachte ich eigentlich nie auf, sondern am Samstagmorgen, und zwar nicht in Moskau, sondern unter dem Eisenbahndamm in der Gegend von Naro-Fominsk.
Mit achtzehn ungefähr stellte ich fest, dass ich von der ersten Dosis an bis einschliesslich der fünften an Männlichkeit zunahm, und zwar unaufhaltsam, aber angefangen von der sechsten
Купавна - 33-й километр
Kupawna - Kilometer 33 / Kupavna - Kilometer 33
bis einschliesslich der neunten wurde ich zusehends weicher in den Knien. Ich wurde so weich, dass mir bei der zehnten Dosis unweigerlich die Augen zufielen. Und was dachte ich in meiner Naivität? Ich dachte, dass ich mich mit Willenskraft dazu zwingen müsste, den Schlaf zu besiegen und die elfte Dosis zu trinken. Dann, meinte ich, müsste sich eine Rückgewinnung der Männlichkeit einstellen. Aber nein, nichts dergleichen! Keinerlei Rückgewinnung, ich hab's versucht.
Ich schlug mich drei Jahre mit diesem Rätsel herum, täglich, und schlief doch täglich nach der neunten Dosis ein.
Des Rätsels Lösung war schliesslich ganz einfach, nämlich: ihr müsst, nachdem ihr die fünfte Dosis getrunken habt, die sechste, siebte, achte und neunte in einem Zug trinken, allerdings ideell, das heisst, in der Vorstellung. Mit anderen Worten: ihr müsst durch pure Willenskraft und in einem Zug die sechste, siebte, achte und neunte nicht trinken.
Nach einer Pause geht ihr dann unmittelbar zur zehnten Dosis über, und genauso wie die Neunte Sinfonie von Anton Dvořák, die faktisch Neunte, üblicherweise als die Fünfte bezeichnet wird, genauso müsst ihr es machen: ihr müsst die Sechste einfach als die Zehnte bezeichnen, und dann, glaubt mir, von da an werdet ihr ungehindert an Männlichkeit zunehmen und zunehmen, von der sechsten (zehnten) bis hin zur achtundzwanzigsten (zweiunddreissigsten). Das heisst, ihr werdet so lange an Männlichkeit zunehmen, bis ein Stadium erreicht ist, wo Besinnungslosigkeit und Schweinerei ihren Lauf nehmen.
Wenitschka verachtet die nach ihm kommende Generation, der einfach alles scheissegal ist. Etwa das Trinken mit grossen Pausen. Oder das Trinken von Klarem, bis man so feurig wird, dass in der Johannisnacht die Mädchen über einen drüberspringen. Ganz im Gegensatz zu schweren Rotweinen übrigens.
Ja, ja! Und wie verheissungsvoll sind die Experimente auf ganz speziellen Gebieten! Nehmen wir zum Beispiel den Schluckauf.
"Du lieber Gott!" schreit es von allen Seiten auf mich ein. "Gibt es denn auf der Welt gar nichts anderes, was eventuell..."
"Nein, eben nicht", schreie ich nach allen Seiten zurück. "Es gibt nichts! Nichts anderes, was eventuell!" Ich bin nicht blöd, ich weiss, dass es noch die Psychiatrie auf der Welt gibt und die aussergalaktische Astronomie und was sonst noch alles.
Aber das ist nichts für uns, das haben uns Peter der Grosse und Nikolaj Kibaltschitsch aufgewschwätzt, während unsere Berufung ganz und gar nicht da liegt, sie liegt ganz woanders! In einem Bereich, in den ich euch einführen will, wenn ihr euch nicht dagegen sträubt! Ihr werdet sagen: "Die Berufung ist langweilig und verlogen:" Aber ich sage und wiederhole es noch einmal: "Es gibt keine verlogene Berufung, man muss jede Berufung achten."
Und überhaupt, ihr könnt mir langsam den Buckel runterrutschen!
33-й километр - Электроугли
Kilometer 33 - Elektrougli / Kilometer 33 - Ėlektrougli
Um mit seiner Erforschung beginnen zu können, muss man ihn natürlich erst hervorrufen: enteder "an sich" (sie Immanuel Kant), das heisst, in sich hervorrufen, oder aber in einem anderen, aber im eigenen Interesse, das hiesst "für sich" (siehe Immanuel Kant). Besser noch natürlich weder "an sich" noch "für sich", sondern so: trinkt zwei Stunden lang irgendwas Starkes, Wodka, Kräuter- oder Jägerschnaps. Trinkt es in grossen Gläsern, jede halbe Stunde eins, und vermeidet nach Möglichkeit, etwas dazwischen zu essen. Wenn das jemandem schwerfällt, kann er einen Happen zu sich nehmen, aber nur ganz bescheiden: etwas Brot, nicht zu frisch, etwas Dosenfisch, einfach, in Kräuter- oder Tomatensauce.
Dann müsst ihr eine einstündige Pause machen. Ihr dürft nichts essen und nichts trinken. Lockert die Muskeln und strengt euch nicht an.
Und ihr werdet selbst sehen: nach Ablauf dieser Stunde, hick!, wird er einsetzen.
Geht an die Arbeit: nehmt ein Blatt Papier und schreibt auf, in welchen Intervallen der Schluckauf euch beehrt, in Sekunden natürlich:
Acht - dreizehn - sieben - drei - achtzehn.
Ihr müsst natürlich versuchen, eine gewisse Periodizität herauszufinden, wenigstens eine ganz, ganz vage. Wenn ihr doch Dummköpfe seid, dann versucht wenigstens, auf irgendeine wahnwitzige Formel zu kommen, um die Länge des folgenden Intervalls annähernd vorherbestimmen zu können. Das Leben wird euch sowieso noch seine Streiche spielen:
Siebzehn - drei - vier - siebzehn - eins - zwanzig - drei - vier - sieben - sieben - achtzehn.
Gibt es etwa in der Folge von Aufstieg und Fall, Glück und Unglück eines jeden Menschen auch nur den geringsten Hinweis auf irgendeine Regelmässigkeit? Gibt es etwa eine Regelmässigkeit in der Aufeinanderfolge von Katastrophen in der Geschichte der Menschheit? Das ist ein Gesetz, das höher ist als wir. Der Schluckauf ist höher als jedes Gesetz. Und so wie uns eben die Plötzlichkeit seines Beginns verwundert hat, so wird euch jetzt sein Ende verwundern, das ihr wie den Tod nicht vorhersagen und nicht verhindern werdet:
Zweiundzwanzig - vierzehn - aus. Stille.
Электроугли - 43-й километр
Elektrougli - Kilometer 43 / Ėlektrougli - Kilometer 43
Ja. Trinkt mehr und esst weniger dazu. Das ist das beste Mittel gegen Selbstgefälligkeit und oberflächlichen Atheismus. Seht euch den Gottlosen an mit seinem Schluckauf: er ist verwirrt, finster, er leidet und ist verderbt. Kehrt euch von ihm ab, spuckt aus und seht mich an mit meinem Schluckauf. Ich glaube an die Bewältigung und pfeife auf irgendwelchen Widerstand. Ich glaube, dass Er gütig ist, und deshalb bin ich auch gütig und heiter.
Er ist gütig. Er führt mich aus dem Leid zum Licht. Von Moskau nach Petuschki. Durch die Qualen am Kursker Bahnhof, durch die innere Reinigung in Kutschino, durch das Gefasel in Kupawna zum Licht nach Petuschki. "Durch Leid zum Licht!" wie die Deutschen sagen.
Ich fing erregt wieder an, auf der Plattform herumzulaufen, noch erregter als vorher. Rauchte und rauchte. Da schoss ein erleuchtender Gedanke wie ein Blitz durch mein Gehirn:
Was könnte ich noch trinken, um auch diesmla in Stimmung zu bleiben? Was könnte ich in Deinem Namen noch trinken?
So ein Malheur! Ich habe nichts, was Deiner würdig wäre. Kubanskaja? Das ist der reinste Scheissdreck! Rossijskaja? Es ist lächerlich, in Deiner Anwesenheit davon zu reden. Und der hochkarätige Rosé für einen Rubel siebenunddreissig?
Wenitschka beschliesst, in Petuschki einen Cocktail zu kreieren, den er "Jordanwellen" oder "Stern von Bethlehem" nennen wird.
Lacht nicht. Ich habe reiche Erfahrung im Kreieren von Cocktails. Zwischen Moskau und Petuschki trinken sie diese Cocktails bis heute, ohne den Namen des Autors zu kennen. Sie trinken "Kanaanbalsam", "Komsomolzenträne", und recht haben sie, dass sie trinken. Wir können von der Natur keine milden Gaben erwarten. Wir müssen uns selbst nehmen, was wir brauchen, aber das setzt voraus, dass wir die genauen Rezepte kennen. Wenn ihr wollt, kann ich euch die Rezepte verraten. Hört zu!
Es folgt eine Anzahl von Cocktail-Rezepten mit Angaben zu ihrer Entstehung und zweckdienlichen Erläuterungen, darunter der "Kanaanbalsam":
- 100 g Brennspiritus
- 200 g dunkles Bier, am besten der Marke "Ostankinskoje" oder "Senator"
- 100 g gereinigte Politur (d. h. gereinigt von gesundheitsschädlichen Zusätzen. Die Politur wird dafür in eine flache Schüssel gegossen und angezündet - geht die Flamme von Orange ins Dunkelblau über, ist die Politur verwendungsfähig.)
So, vor euch steht der "Kanaanbalsam". In der Umgangssprache nennt man ihn auch "Braunbär", weil es eine Flüssigkeit von schwarzbrauner Frabe ist, von mässiger Stärke und beständigem Aroma. Das ist fast kein Aroma mehr, das ist eine Hymne. Die Hymne der demokratischen Jugend! Und zwar deshalb, weil man nach Genuss dieses Cocktails Vulgarität und dunkle Kräfte entwickelt. Wie oft schon habe ich das beobachtet...!
Um die Entwicklung dieser dunklen Kräfte irgendwie zu verhindern, gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: keinen "Kanaanbalsam" trinken; zweitens: an seiner Stelle den Cocktail "Geist von Genf" zu sich nehmen.
Hier ist das genaue Rezept:
- 50 g "Weisser Flieder" (ein billiges sowjetisches Parfüm, das auf keinen Fall durch etwas anderes ersetzt werden darf)
- 50 g Antifussschweisspuder
- 200 g Shiguli-Bier
- 150 g Spritlack
Wenn man Wodka trinkt, erhält man sich den gesunden Menschenverstand und sein Gedächtnis oder aber verliert mit einemmal beides. Die "Komsomolzenträne" dagegen hat eine ganz andere absurde Wirkung: Wenn man hundert Gramm davon trinkt, von dieser "Träne", bleibt das Gedächtnis scharf, aber der gesunde Menschenverstand schwindet, als hätte man nie einen gehabt. Trinkt man weitere hundert Gramm, kann man sich nur noch wundern: woher kommt plötzlich so viel gesunder Menschenverstand? Und wo ist das ganze Gedächtnis geblieben?
- 15 g Lavendel
- 15 g Eisenkraut
- 30 g Rasierwasser "Fichtennadel"
- 2 g Nagellack
- 150 g Mundwasser "Elixier"
- 150 g Limonade
Das alles muss zwanzig Minuten mit einem Zweiglein Jelängerjelieber (auch Geissblatt genannt) gerührt werden.
Zum Schluss verrät Wenitschka auch noch das Rezept für den Cocktail "Schweinegekröse", das ich an dieser Stelle dem Leser des Buches vorbehalten will, denn:
Das ist kein Getränk mehr, das ist Sphärenmusik.
Bereits nach zwei Gläsern werdet ihr eine solche Vergeistigung an euch feststellen, dass man euch aus anderthalb Metern Entfernung eine halbe Stunde lang in die Fresse spucken könnte, ohne dass euch das tangieren würde.
43-й километр - Храпуново
Kilometer 43 - Chrapunowo / Kilometer 43 - Chrapunovo
In Petuschki, verspreche ich, werde ich euch in das Geheimnis der "Jordanwellen" einweihen, falls ich lebend dort ankomme; falls Gott mir gnädig ist.
Dieses Versprechen wird leider nicht eingelöst (was darauf hindeutet, dass Wenitschka in Wirklichkeit gar nie bis Petuschki gekommen ist).
Soll ich euch erklären, was ein "Kuss" ist? Nun, ein "Kuss", das ist eine Mischung aus halb Rotwein beliebiger Sorte und halb Wodka beliebiger Sorte. Ein trockener Trauebenwein pluss Pfefferwodka oder Kubanskaja - das nenne ich zum Beispiel "Erster Kuss". Die Mischung von selbstgebranntem Schnaps mit Portwein No. 33, das ist "Der erzwungene Kuss" oder einfacher "Kuss ohne Liebe" oder noch einfacher "Inès Armand". Was gibt es nicht alles für "Küsse"! Damit einem nicht schlecht davon wird, muss man sich von Kind auf daran gewöhnen.
Ich habe im Köfferchen eine Flasche Kubanskaja. Aber es fehlt der trockene Traubenwein. Also entfällt für mich der "Erste Kuss", von dem kann ich nur träumen. Aber da sind noch anderthalb Flaschen Rossijskaja und der Rosé für einen Rubel siebenunddreissig. Die beiden zusammen ergeben den "Kuss der Tante Klara". Zugegeben, er ist nichtssagend im Geschmack, um nicht zu sagen, ein Brechmittel, gut genug, um einen Gummibaum damit zu giessen. Zugegeben. Aber was tun, wenn weder ein trockener Wein noch ein Gummibaum in der Nähe sind? Da muss ich mich eben wohl oder übel von Tante Klara küssen lassen.
Ich ging ins Abteil, um mein Pisswasser zum "Kuss" zusammenzuschütten.
Seit Nikolskoje war Wenitschka jetzt auf der Plattform gewesen.
Ich kam zu meinem Platz und erstarrte. Wo war meine Flasche Rossijskaja? Die Flasche, die ich in Hammer-und-Sichel nur zur Hälfte geleert hatte? Seit Hammer-und-Sichel hatte sie neben meinem Köfferchen gestanden, mit noch fast hundert Gramm drin. Wo war sie jetzt?
Die Engelchen haben nicht aufgepasst. Wenitschka blickt rundum und sieht lauter Unschuldige, doch schliesslich bildet sich ein Verdacht.
Sonderbar scheinen nur zwei: der Opa mit seinem Enkel. Der Enkel ist zwei Kopf grösser als sein Opa und von Geburt auf schwachsinnig. Der Opa ist zwei Kopf kleiner, aber auch schwachsinnig. Die beiden sehen mir unverblümt in die Augen und lecken sich die Lippen...
Sehr verdächtig, fachte ich noch einmal. Ich erhob mich etwas von meinem Platz und winkte die beiden zu mir heran.
"Wie heisst du denn, Opa, und wohin fährst du?"
Храпуново - Есино
Chrapunowo - Jessino / Chrapunovo - Esino
"Mitritsch, heisse ich. Und das ist mein Enkelchen, er heisst auch Mitritsch... Wir fahren nach Orechowo in den Vergnügungspark, Karussell fahren..."
Und das Enklechen ergänzte:
"I-i-i-i-i..."
"Sag mal, Mitritsch, was hast du hier gemacht, solange ich auf der Plattform war? Solange ich auf der Plattform meinen Gedanken nachhing? Über meine Gefühle nachdachte? Meine Gefühle zur Geliebten? Na? Sag mir das doch mal..."
Mitritsch rührte sich nicht, nur seine Augen fingen an, unruhig hin und her zu wandern.
"Ich? Ich habe nichts gemacht. Ich wollte nur etwas Kompott essen. Kompott mit Weissbrot..."
"Kompott mit Weissbrot?"
"Ja, Kompott. Mit Weissbrot."
"Wunderbar. Dann ist ja alles klar: ich stehe auf der Plattform und hänge meinen Gedanken nach, und unterdessen sucht ihr auf meinem Platz etwas Kompott mit Weissbrot. Und nachdem ihr kein Kompott findet..."
Meine Beweislast hatte sie erdrückt. Sie hielten sich die Hände vors Gesicht, beide, und schaukelten reuevoll hin und her im Takt zu meinen Beschuldigungen.
"Genug der Tränen. Wenn ich verstehen will, bringe ich alles unter. Ds, was ich auf den Schultern trage, ist kein Kopf, sondern ein 'Haus der offenen Tür'. Wenn ihr wollt, kann ich euch noch einen anbieten. Ihr habt schon fünfzig Gramm gehabt, hier - ich kann euch noch mal fünfzig einschenken..."
In diesem Augenblick kam jemand von hinten an uns heran und sagte: "Ich möchte auch mit Ihnen trinken."
Alle sahen gleichzeitig auf. Es war ein Mann mit schwarzem Schnurrbart, im Jackett und mit brauner Baskenmütze. "I-i-i-i-i", kreischte der junge Mitritsch, "schau mal, der Onkel, was für ein schlauer Onkel..."
Der Schnurrbärtige unterbrach ihn mit strafendem Blick.
"Ich bin überhaupt nicht schlau. Ich stehle nicht, wie manche. Ich stehle fremden Leuten keine lebensnotwendigen Dinge. Ich habe meinen eigenen mitgebracht - hier..."
Er stellte mir eine Flasche Stolitschnaja auf das Klappbrett unter dem Fenster. "Trinken Sie einen von meinem?" fragte er mich. Ich rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen.
Есино - Фряазево
Jessino - Frjasewo / Esino - Frjazevo
Der Schnurrbärtige beginnt über die Trinkgewohnheiten berühmter Schriftsteller und Musiker zu schwadronieren.
Alle wertvollen Menschen Russlands, alle Menschen, die für Russland wichtig waren, haben gesoffen wie die Löcher. Nur die Überflüssigen, die Beschränkten haben nicht gesoffen. Nehmen wir Eugen Onegin. Zu Gast bei den Larins, trank er nicht mehr als ein Glas Himbeersaft und kriegte selbst davon den Dünnpfiff.
Sie haben verzweifelt gesoffen! Alle aufrechten Menschen Russlands! Und warum haben sie so verzweifelt gesoffen? Weil sie aufrecht waren, deswegen nämlich, weil sie das schwere Schicksal ihres Volkes nicht mildern konnten!"
Der Schnurrbärtige war aufgesprungen und hatte die Baskenmütze abgeworfen. Er gestikulierte wie ein Verrückter mit hochrotem Kopf, aufgeheizt vom Wodka.
Auch der für seinen Alkoholkonsum bekannte Goethe kriegt schliesslich noch sein Fett weg:
"Mit mir hat auf der Baustelle ein gewisser Kolja gearbeitet, der war genauso: selbst trinkt er nichts, vor Angst, dass ihm beim ersten Schluck die Sicherung durchbrennt und dass er dann mit dem Schlucken wochen- und monatelang nicht mehr aufhören kann. Aber uns zwingt er geradezu zum Trinken. Schenkt uns ein, grunzt und frohlockt, der Drecksack, der dreckige... So auch Ihr vielgerühmter Johann Wolfgang von Goethe. Schiller schenkt ihm ein, und er lehnt ab - von wegen! Ein Alkoholiker war er. Ihr Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe, ein Trunkenbold! Dem zitterten nur so die Hände..."
"Da haben wir's...", der Dekabrist und der Schnurrbärtige strahlten mich glücklich an. Das schöne System war wiederhergestellt und mit ihm die gute Laune. Der Dekabrist holte mit ausschweifender Geste eine Flasche Pfefferwodka aus seinem Overcoat und stellte sie dem Schnurrbärtigen zu Füssen. Der Schnurrbärtige holte seine Flasche Stolitschnaja hervor. Alle rieben sich die Hände, merkwürdig erregt...
Sie gossen mir ein - mehr als allen anderen. Dem alten Mitritsch gossen sie auch ein und gaben auch dem jungen ein Glas. Der drückte es glücklich mit dem rechten Oberschenkel an die linke Brustwarze, wobei ihm aus beiden Nasenlöchern die Tränen rannen...
"Also, auf das Wohl des Geheimrats Johann Wolfgang von Goethe!"
Фряазево - 61-й километр
Frjasewo - Kilometer 61 / Frjazevo - Kilometer 61
Das Gespräch wendet sich nun den Symmetrien des Lebens zu: "Diese dumme Natur ist um nichts auf der Welt so eifrig besorgt, wie um das Gleichgewicht", behauptet der Schnurrbärtige, und: "Mit dem Auftauchen der Frau gerät jegliche Symmetrie durcheinander."
"Ich zum Beispiel", sagte der Dekabrist, "habe dreissig Weiber, eins schmuddliger als das andere, obwohl ich keinen Schnurrbart habe. Sie haben einen Schnurrbart und deshalb wahrscheinlich eine gute, aber eben nur eine Frau. Trotzdem glaube ich, dass es besser ist, dreissig von den allerschlechtesten Weibern zu haben als eins von den besten..."
"Was hat denn der Schnurrbart damit zu tun? Wir reden von Weibern und nicht von Schnurrbärten!"
"Von Schnurrbärten auch. Gäbe es keine Schnurrbärte, würden wir nicht reden..."
"Der Teufel weiss, was Sie daherfaseln. Ich glaube jedenfalls, dass eine gute Frau genausoviel wert ist wie Ihre dreissig alle zusammen. Was halten Sie davon" Der Schnurrbärtige wandte sich wieder an mich. "Was halten Sie davon, vom wissenschaftlichen Standpunkt?"
"Vom wissenschaftlichen Standpunkt", sagte ich, "ist sie natürlich genausoviel wert. In Petuschki zum Beispiel kriegt man für dreissig leere Flaschen eine volle mit Kräuterschnaps. Und angenommen, man bringt ihnen..."
"Was? Eine für dreissig? Warum denn so viel?" ereiferten sicha alle. "Na, weil es darunter keiner macht! Zwölf Kopeken Pfand pro Flasche macht bei dreissig Flaschen drei sechzig, während der Kräuterschnaps zwei zweiundsechzig kostet. Klar, drei sechzig ist gut, besser als zwei zweiundsechzig, aber du nimmst trotzdem kein Wechselgeld, weil hinter der Theke eine gute Frau steht, und eine gute Frau muss man respektieren..."
"Und warum ist das eine gute Frau hinter der Theke?"
"Weil eine schlechte eure Flaschen überhaupt nicht nehmen würde. Aber die gute nimmt eure schlechten Flaschen und gibt euch eine gute dafür. Deshalb muss man sie respektieren... Wozu sind die Weiber überhaupt auf der Welt?" Alle schwiegen bedeutungsvoll. Jeder dachte das Seine oder aber alle dasselbe. Ich weiss nicht.
Schliesslich schlägt der Dekabrist der Trinkrunde vor, es so zu machen wie bei Turgenjew, dass jeder den anderen eine Geschichte über die Liebe erzählen solle.
61-й километр - 65-й километр
Kilometer 61 - Kilometer 65 / Kilometer 61 - Kilometer 65
Als erster begann der Dekabrist zu erzählen:
"Ich hatte einen Freund, den ich nie vergessen werde. Er war zwar schon immer irgendwie unberechenbar, doch plötzlich schien der Teufel in ihn gefahren zu sein. Wisst ihr, in wen er sich verrannt hat? In die berühmte sowjetische Harfenistin Olga Erdeli. Vera Dulowa ist zwar auch eine berühmte Harfenistin, aber nein, er muss sich in die Erdeli verrennen. Dabei hat er sie kein einziges Mal im Leben gesehen, nur gehört, wie sie im Radio auf der Harfe klimpert. Mach was dran. Liegt da und steht nicht mehr auf. Arbeitet nichts, lernt nichts, trinkt nichts, raucht nichts, will keine Mädchen sehen und streckt den ganzen Tag den Kopf nicht aus dem Fenster. Her mit der Erdeli und basta."
'Muss es denn unbedingt die Erdeli sein?^fragen wir ihn. 'Nimm doch Vera Dulowa. Sie spielt grossartig.'
Darauf er: 'Ihr könnt mir gestohlen bleiben mit eurer Vera Dulowa. Der Schlag soll sie treffen, eure Vera Dulowa. Neben die setze ich mich nicht einmal zum ...ssen hin!'
Zu Erdeli traute er sich dann genausowenig wie zur Dulowa, doch trifft er eine Thusnelda, voll wie eine Haubitze, klemmt ihr eine Balalaika unter den Arm und schleppt sie zu seinem liebeskranken Freund:
'Da hast du deine Erdeli! Wenn du's nicht glaubst, frag sie selbst!' Und was sehe ich am nächsten Morgen? Sein Fenster ist geöffnet, er schaut raus und raucht leise. Es dauert nicht lang, da fängt er auch wieder an zu arbeiten, zu lernen, zu trinken... Und wird wieder ein Mensch wie jeder andere. Da seht ihr's."
"Wo ist denn da die Liebe, und wo ist Turgenjew'" fingen alle gleichzeitig an, noch bevor er geendet hatte.
Als nächster meldet sich der alte Mitritsch zu Wort:
65-й километр - Павлово-Посад
Kilometer 65 - Pawlowo-Possad / Kilometer 65 - Pavlovo-Posad
"Wir hatten einen Vorsitzenden... Lohengrin nannten sie ihn. Ein so strenger Charakter... und überall voller Furunkel. Jeden Abend fuhr er mit dem Motorboot hinaus. Setzt sich ins Boot und fährt auf dem Fluss dahin... fährt und drückt sich die Furunkel aus."
Aus den Augen des Erzählers tropfte das Wasser. Er schien tief bewegt.
"Und wenn er genug Boot gefahren war, kam er ins Büro und legte sich auf den Boden... Da wurde er dann ganz unzugänglich - schwieg und schwieg. Und wenn ihm einer ein verkehrtes Wort sagte, verzog er sich in eine Ecke und begann zu weinen. Stand da und weinte und pisste auf den Boden, wie ein kleines Kind..."
Der Opa verstummte plötzlich. Sein Mund verzog sich, seine blaue Nase leuchtete auf und verlosch. Er weinte! Er weinte wie eine Frau, hielt sich die Hände vors Gesicht, und seine Schultern bebten, bebten und wogten wie Wellen...
"Nun, Mitritsch, das war's wohl...?"
Das ganze Abteil bebte vor Lachen. Alle lachten, unanständig und vergnügt.
Aber ich verstand den alten Mitritsch, ich verstand seine Tränen. Ihm tat einfach jeder und jedes leid: der Vorsitzende, dem man so einen schmählichen Spitznamen gegeben hatte, die Wand, die er anpinkelte, das Boot und die Furunkel - alles tat ihm leid. Erste Liebe oder letztes Mitleid - wo ist da der Unterschied? Christus predigte uns Mitleid, als er am Kreuze starb, von Spott hat er nichts gesagt.
"Komm, Opa", sagte ich, "komm, ich lade dich ein. Du hast es verdient! Du hast uns so schön erzählt von der Liebe..."
"Lasst uns alle trinken! Auf Iwan Turgenjew, den Edelmann von Orjol und Bürger des schönen Frankreich!"
Zuerst bemerkte keiner, dass sich am Eingang zu unserem Coupé (nennen wir es "Coupé") eine Frauengestalt aufgebaut hatte. Sie trug eine braune Baskenmütze, ein Jackett und hatte einen kleinen schwarzen Schnurrbart. Sie war von oben bis unten besoffen, und die Baskenmütze hing ihr schief auf dem Kopf.
"Ich will auch Turgenjew und was zu trinken", sagte sie mit ihrer umfangreichen Bauchstimme.
Ich rückte zur Seite, damit sie sich zu uns setzen konnte, und goss ihr ein halbes Glas von meiner "Tante Klara" ein.
"Sehr ihr das?" fragte sie und zeigte uns eine Schramme, die sie über dem Ohr hatte.
Павлово-Посад - Назарьево
Pawlowo-Possad - Nasarjewo / Pavlovo-Posad - Nazarjevo
"Sehr ihr das? Vier Zähne weg."
"Wo sind sie denn, die Zähne?"
"Was weiss ich, wo die sind. Ich bin eine gebildete Frau und muss ohne Zähne rumlaufen. Er hat sie mir wegen Puschkin ausgeschlagen. Da höre ich zufällig, dass ihr hier ein literarisches Gespräch führt. Geh, denke ich, setz dich zu ihnen, trink einen Schluck und erzähle ihnen, wie man dir wegen Puschkin den Schädel eingeschlagen und vier Vorderzähne ausgeschlagen hat."
Sie begann uns ihre Geschichte zu erzählen, in einem wilden Stil...
"Alles hat mit Puschkin angefangen. Eines Tages schickte man uns den Komsomolorganisator Jewtjuschkin. Der hatte nichts Besseres zu tun, als die Mädchen in den Hintern zu kneifen und Gedichte zu rezitieren. Eines Tages packt er mich plötzlich an den Waden und schreit: 'Hat dich mein Blick jemals gequält?' Ich antworte: 'Und wenn er hätte?' Darauf packt er mich wieder an den Waden: 'Hat meine Stimme dich beseelt?' Er reisst mich plötzlich an sich und zerrt mich irgendwohin. Und als es sich ausgezerrt hatte, lief ich tagelang wie im Tran herum und wiederholte immerzu: 'Puschkin - Jewtjuschkin - gequält - beseelt.' 'Gequält - beseelt - Puschkin - Jewtjuschkin'...
Aber dann hat dieser Puschkin wieder alles versaut. Kaum habe ich was getrunken, gehe ich auf ihn los: 'Wer soll denn die Kinder für dich grossziehen? Puschkin, was?' Und er schnauzt zurück: 'Was denn für Kinder? Es sind doch keine da! Was hast du denn mit deinem Puschkin?'
Neulich, da konnte ich mich nicht mehr bremsen. Ich war blau wie ein Veilchen. Ich stürzte mich auf ihn und brüllte: 'Soll vielleicht Puschkin die Kinder für dich grossziehen? Was? Puschkin vielleicht?'
Er lachte auf, irgendwie tierisch, wie in der Oper, packte mich, brach mir den Schädel und verschwand nach Wladimir an der Kljasma.
Warum verschwand er? Zu wem? Ganz Europa teilte mein Befremden. Meine taubstumme Grossmutter sass auf dem Ofen und sagte: 'Siehst du, Daschenka, so weit ist es mit dir gekommen auf der Suche nach deinem Ich!'
Nach einem Monat kam er zurück. Er kam wortlos auf mich zu, schlug mir vier Vorderzähne aus und verschwand nach Rostow am Don im Auftrag des Komsomol..."
Der Rest des Kapitels versinkt im jauchzenden Delirium, Neger in Sibirien, die sich an bestickten Handtüchern aufhängen, während die Freiheit eine Utopie geblieben ist in Amerika, auf diesem Kontinent des Leids. Schliesslich beginnt Mitritsch wieder zu weinen.
Назарьево - Дрезна
Nasarjewo - Dresna / Nazarjevo - Drezna
Wenitschka erzählt von seinen Reisen, wie er sich in Venedig eine Gondelregatta ansehen wollte, wie er aus Herculaneum und Pompeji fortgeschickt wurde, wie er sich nach Frankreich begab und fast schon an der Maginot-Linie war, als ihm plötzlich eine Idee kam:
Geh, denke ich, geh zurück und quartiere dich für eine Weile bei Luigi Longo ein. Miete dir eine Schlafstelle bei ihm und lies Bücher, anstatt dich sinnlos herumzutreiben. Besser wäre natürlich eine Schlafstelle bei Palmiro Togliatti, dachte ich, aber der ist ja kürzlich gestorben... Doch Luigi Longo ist schliesslich auch nicht schlechter...
Er durchquert also Tirol und erreicht schliesslich die Sorbonne, wo er Bakkalaureus werden will, jedoch vom Rektor geschlagen und hinausgeworfen wird, da er von seinem sich frei entzwickelnden Logos geschwafelt hatte. So sieht er sich denn eben Paris an, den Eiffelturm, von dem aus in alle vier Himmelsrichtungen nur Puffs zu sehen sind, die Boulevards... Auf den Champs-Elysées trifft er Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die er allerdings mit Louis Aragon und Elsa Triolet verwechselt, aber das konnte mir schliesslich egal sein. In einer angemieteten Mansarde in der Gegend von Notre-Dame schreibt er ein Essay mit dem Titel "Schick und Charme, always smart". Ein Essay über Fragen der Liebe, das von der Revue de Paris allerdings zurückgewiesen wird. "Aus irgendeinem Grund ist in Frankreich alles, was mit der Liebe zu tun hat, längst geschrieben." Während man umgekehrt in Russland nicht mal einen harten (Syphilis) von einem weichen Schanker unterscheiden kann. Auch der französische Essay mit russischem Titel, "Der Libidinismus als höchstes und letztes Stadium des Sexismus", wird nicht angenommen.
Meine Sprache hat man als brilliant bezeichnet, aber den Grundgedanken als falsch. Für die russischen Verhältnisse, meinten sie, trifft das vielleicht zu, aber für die französischen nicht. Der Libidinismus ist bei uns noch nicht das höchste Stadium, und noch lange nicht das letzte. Bei den Russen, sagten sie, wird der Sexismus, sobald er die Grenze zum Libidinismus erreicht hat, gewaltsam vereinfacht und durch Onanismus nach einem obligatorischen Programm ersetzt. Bei uns, bei den Franzosen, ist zwar in Zukunft die organische Implantation verschiedener Elemente des russischen Onanismus nach einem zwangloseren Programm in unsere einheimische Sodomie, in die unser Libidinismus infolge von Blutschande transformiert wird, nicht ausgeschlossen, doch wird der Prozess der Implantation auf dem Kurs unseres traditionellen Sexismus verlaufen, und zwar absolut kontinuierlich.
Kurz, sie haben mir das Gehirn total vollgesch... Ich pfiff auf die ganze Sache, verbrannte meine Manuskripte zusammen mit der Mansarde und der Beletage und ab durch die Mitte über Verdun zum Ärmelkanal.
Ich marschierte und sang: "Die Königin von England liegt schwer darnieder, ihre Tage und Nächte sind gezählt."
Дрезна - 85-й километр
Dresna - Kilometer 85 / Drezna - Kilometer 85
Auf einen Einwand des Schnurrbärtigen, wie erstaunlich leicht er alle Staatsgrenzen überwinde, antwortet Wenitschka mit einem Exkurs über Grenzen:
"Bei uns zum Beispiel weiss der Grenzsoldat ganz genau, dass die Grenze, die er bewacht, keine Fiktion und kein Symbol ist, weil nämlich auf der einen Seite russisch gesprochen und mehr getrunken wird, und auf der anderen Seite weniger getrunken und nicht russisch gesprochen wird...
Aber dort? Wie könnte es dort Grenzen geben, wo doch alle gleichviel trinken und niemand russisch spricht."
Gern würde er sich von Sir "Mixed Pickles", dem Direktor des Britischen Museums in London engagierten lassen, doch dem passen weder seine Hosen noch seine Socken, und so bringt er die Sache vors Britische Oberhaus. Gerade als die Königin von England das Wort ergreift, wird er unterbrochen:
"Kontrolleure! Kontrolleure!"
Ein Aufschrei ging durch das ganze Abteil, schwoll und explodierte: "Die Kontrolleure!!!"
Im Grunde genommen hat auf der Strecke nach Petuschki keiner Angst vor den Kontrolleuren, weil alle ohne Fahrschein sind. Wenn irgendein Abtrünniger im Suff aus Versehen eine Fahrjarte gekauft hat, ist es ihm natürlich furchtbar peinlich, wenn die Kontrolleure kommen. Wenn sie ihn nach dem Fahrschein fragen, kann er niemand in die Augen schauen, nicht dem Schaffner, nicht den Kontrolleuren, er möchte am liebsten im Erdboden versinken.
Bevor Semjonytsch Oberschaffner wurde, wurden die Fahrscheinlosen geschlagen, abkassiert und aus dem Zug geworfen.
In jenen Tagen rannten sie in panischen Haufen durch die Wagen, um sich vor den Kontrolleuren zu retten, und zogen auch die mit sich, die einen Fahrschein besassen. Einmal rannten zwei kleine Jungs, von der allgemeinen Panik ergriffen, zusammen mit der ganzen Herde davon und wurden vor meinen Augen zu Tode getrampelt. Sie blieben so im Durchgang liegen mit ihren Fahrscheinen in den blauen Händen...
Oberschaffner Semjonytsch dagegen vereinfachte das Prozedere und nimmt von jedem Fahrscheinlosen ein Gramm Wodka pro Kilometer.
Gewöhnlich fuhr er nur bis Orechowo-Sujewo. In Orechowo-Sujewo stieg er aus und begab sich in sein Kontor, vollgetankt bis zum Erbrechen...
"Schon wieder du, Mitritsch? Schon wieder nach Orechowo? Karussell fahren? Von euch beiden achtzig. Und du, Schnurrbart? Saltykowskaja - Orechowo-Sujewo? Zweiundsiebzig Gramm. Weckt mal die besoffene Büchse da auf und fragt sie, was sie schuldig ist. Und du, Covercoat, woher und wohin? Hammer-und-Sichel - Pokrow? Hundertfünf, wenn ich bitten darf."
85-й километр - Орехово-Зуево
Kilometer 85 - Orechowo-Sujewo / Kilometer 85 - Orechovo-Zuevo
Wenitschka machte die Bekanntschaft Semjonytschs bereits vor drei Jahren, als dieser seine Stelle erst gerade antrat und das neue System einführte. Da Wenitschka keinen Wodka dabei hat, muss er Semjonytsch über alles Antike und Römische erzählen, wobei sich dieser vor allem für die Bettgeschichten interessiert. Doch jeweils im entscheidenden Augenblick hält der Zug in Orechowo-Sujewo, und Semjonytsch muss aussteigen. So auch in der nächsten Woche:
Ich erzählte ihm die Fortsetzung. Ich ging von der römischen Geschichte zu der des Christentums über und war schon bei dem Zwischenfall mit Hypatia. Ich berichtete: "Angestiftet vom Patriarchen Kyrillos, rissen die von Fanatismus besessenen Mönche von Alexandria der wunderschönen Hypatia die Kleider vom Leib und..." Da blieb unser Zug wie angewurzelt seteh. Wir waren in Orechowo-Sujewo, und Semjonytsch sprang hinaus auf die Plattform, endgültig seiner Neugierde ausgeliefert.
So ging es ganze drei Jahre, jede Woche. Auf der Strecke "Moskau - Petuschki" war ich der einzige Passagier ohne Fahrschein, der Semjonytsch noch nie ein Straf-Gramm gezahlt hatte und trotzdem mit dem Leben und ohne Schläge davongekommen war. Aber jede Geschichte hat einmal ein Ende und die Weltgeschichte auch... Letzten Freitag war ich bis zu Indira Gandhi, Moshe Dayan und Dubček gekommen. Weiter kann man nicht mehr gehen...
So bleibt Wenitschka nichts anderes übrig als an Semjonytschs Phantasie zu appellieren:
"Kannst Du vom Dritten Reich, vom Vierten Rückenwirbel, von der Fünften Republik und dem Siebzehnten Parteitag mit mir zusammen einen Schritt tun in die Welt des von allen Juden sehnlichst erwarteten Fünften Königreichs, des Siebenten Himmels und der Zweiten Ankunft des Herrn?"
Natürlich kann Semjonytsch, und so erzählt Wenitschka ihm nicht nur vom Erzengel Gabriel und der gebenedeuten Jungfrau Maria, sondern auch von der Frau des Orients, die ihren Schleier ablegen wird, dass sich niederlegen wird auch der Wolf neben dem Lamm... worauf sich der sternhagelvolle Semjonytsch unter den erstaunten Blicken der Passagiere vollständig nackt auszuziehen beginnt.
Ich muss nämlich darauf hinweisen, dass die Homosexualität in unserem Land zwar endgültig abgeschafft ist, aber doch noch nicht ganz. Genauer: ganz, aber nicht gar. Noch genauer: eigentlich ganz und gar, aber nicht vollkommen. Was haben die Passagiere in diesem Moment wohl im Kopf? Einzig und allein die Homosexualität. Sicher, sie haben auch die Araber im Kopf, Israel, die Golanhöhen, Ben Gurion und Moshe Dayan. Aber wenn man nun Moseh dayan von den Golanhöhen vertreiben und die Araber mit den Juden aussöhnen würde, was bliebe dann in den Köpfen der Leute? Nichts als Homosexualität.
Schnell zieht Wenitschka den Oberschaffner auf die Plattform hinaus und lehnt ihn an die Tür.
"Wenjaè Sag, die Frau des Orients, wenn sie den Schleier abnimmt, wird darunter noch irgendwas sein? Wird sie unter dem Schleier noch etwas anhaben?"
Ich kam nicht mehr dazu, ihm zu antworten. Der Zug blieb wie angewurzelt stehen; wir waren in Orechowo-Sujewo. Die Tür öffnete sich automatisch...
Орехово-Зуево
Orechowo-Sujewo / Orechovo-Zuevo
Der Oberschaffner Semjonytsch, dessen Interesse ich zum tausendundeintenmal geweckt hatte, flog halb lebendig und halb nackt auf den Bahnsteig hinaus und schlug mit dem Kopf am Geländer auf. Zwei oder drei Sekunden blieb er noch auf den Beinen stehen, nachdenklich und schwankend, wie ein Schilfrohr im Wind, und dann brach er vor den Füssen der aussteigenden Passagiere zusammen. Alle Strafen für fahrscheinlose Fahrten brachen aus seinem Schädel hervor und zerflossen am Bahnsteig...
Fast wird Wenitschka selber von den Aussteigen mitgerissen, von den Einsteigenden wieder zurückgerissen - "hin- und hergeschleudert wie ein Stück Scheisse im Abfluss." Schliesslich kann er sich ins Wageninnere retten, lässt sich auf die erste Sitzbank gleich neben der Tür fallen, erfühlt in seiner Tasche eine unversehrte Flasche Kubanskaja und nimmt fünf oder sechs Schluck.
Erst dann liess ich die Ruder sinken und gab mich dem gewaltigen Strom der Phantasien und trägen Schläfrigkeit hin...
Орехово-Зуево - Крутое
Orechowo-Sujewo - Krutoje / Orechovo-Zuevo - Krutoe
Крутое - Воиново
Krutoje - Woinowo / Krutoe - Voinovo
Воиново - Усад
Woinowo - Ussad / Voinovo - Usad
Усад - 105-й километр
Ussad - Kilometer 105 / Usad - Kilometer 105
105-й километр - Покров
Kilometer 105 - Pokrow / Kilometer 105 - Pokrov
Покров - 113-й километр
Pokrow - Kilometer 113 / Pokrov - Kilometer 113
113-й километр - Омзтище
Kilometer 113 - Höllenbreughel / Kilometer 113 - Omutišče
Омзтище - Леоново
Höllenbreughel - Leonowo / Omutišče - Leonovo