Rockhörer

Aus Mikiwiki
Wechseln zu: Navigation, Suche

Natürlich gibt es "den" Rock sowenig wie "den" Rockhörer - in Wirklichkeit gibt es von ersterem nur eine Vielzahl von unterschiedlichen Stilrichtungen und Klangvarianten, die sich unter den einzelnen Rockgruppen weiter differenzieren. Und es gibt ebenso eine Vielzahl von Hörweisen.

Tibor Kneif unternahm in seinem Buch Rockmusik (1982) den Versuch einer Beschreibung verschiedener Hörertypen:

Der Texthörer achtet besonders auf die sprachliche Botschaft des Rock, der ja zum allergrössten Teil aus vertonten Gedichten besteht, und registriert die Musik dabei eher als Textverzierung. Wichtig ist dabei weniger die literarische Qualität, als vielmehr der allgemeine Stimmungsgehalt der Liedtexte oder gar deren auch in Prosa wiedergebbarer Inhalt. Schlichtem Blues, Protest- und weltanschaulichen Belehrungsliedern wird eine solche Hörhaltung am ehesten gerecht, insbesondere auch der 1960-1865 in den USA blühenden Liedermacher-Szene, in der das musikalische Element über einige sparsame Tonmotive ohnehin nicht hinausging. Zu den Vertretern dieser überwiegend textbezogenen, textbetonten Richtung gehören:

  • der frühe Bob Dylan, Donovan ("Universal soldier"), Cat Stevens, Leonhard Cohen ("Suzanne"), Bruce Springsteen
  • italienische Belcanto-Rocker wie Lucio Battisti, Angelo Branduardi und Drupi
  • die meisten politisch engagierten Gruppen wie die Fugs in New York oder Floh de Cologne in Köln

Der Ressentiment-Hörer ist dem Rock hauptsächlich zugetan, um damit andere zu beeindrucken oder zu schockieren. Mit Hilfe des Rock tobt er feindselige Gefühle, richtungslose Wut und ein gesteigertes Selbstbewusstsein aus. Ein solch blindes Abreagieren von Frustrationen und undurchschauten Gefühlen beschränkt sich dabei nicht auf den Privatbereich, sondern erfüllt auch manche Platten- und Konzertkritiken. Gemäss Kneif lässt sich dieser Hörertyp dann etwa dazu hinreissen, die seichte Popgruppe Abba als "Beatles der siebziger Jahre" und Gegner seiner Meinung als "bemitleidenswerte Geschöpfe" zu bezeichnen.

Der zerstreute Hörer nimmt Rock als eine unspezifische akustische Umhüllung wahr, in der er Zeitung lesen, Schularbeiten machen und Gespräche führen kann. Kneif vermutet in diesem Hörertyp häufig eine "ausgeprägte Ich-Schwäche", dem erst die klangliche Unterstützung zum Selbstvertrauen verhilft. "Die Dauer des ausschweifenden, stundenlangen Musikkonsums verhält sich dabei umgekehrt zur Intensität des Musikerlebens." Als Untergattung wird jener Rockhörer bezeichnet, "der in Gesellschaft Gleichgesinnter einer aufgelegten Schallplatte nicht einmal eine Minute lang still zuhören kann, sondern gesprächig wird, sobald die Musik einsetzt."

Der Motoriker "schüttelt den Kopf energisch nach vorne und nach hinten, er gestikuliert mit seinen Armen und versetzt die nahe Umgebung in rhythmische Erschütterung mit seinen Füssen. Weibliche Konzertbesucherinnen entsprechen dem gleichen Bewegungsdrang mit mehr oder minder anmutigen Körper- und Armgebärden, die an menschenähnliche Gewächse in Zeichentrickfilmen erinnern." Diesem Hörertyp bescheinigt Kneif, "unmittelbaren und zwanghaften Nachvollzug" zu betreiben, obwohl er den "phantasievollen, improvisierten Einzeltanz samt den entsprechenden Begleitgesten" immerhin als bestimmten Gattungen wie Hard Rock, Funk und Rock'n'Roll zugehörig anerkennt.

Der Stimmungshörer urteilt gemäss seiner augenblicklichen Launen und Passionen über musikalische Qualitäten. Zur Sachlichkeit ist er nicht fähig und betrachtet Musikstücke als blosse Lieferanten von Empfindungen. Wie der Schlagerhörer liebt er besonders das Wiedererkennen von Melodien und Rhythmen, ebenso verwendet er als Rockkritiker immer wiederkehrende Wendungen. Tibor Kneif: "Von einem warmen Bad ist da die Rede, das ein Musiktitel dem Herrn Journalisten bereitet; auch werden untergehende Sonne, laue Lüfte und derlei abgedroschene Bilder aus Trivialromanen wachgerufen, um das eigene Wohlbefinden zu umschreiben."

Der Fan interessiert sich hauptsächlich für Personen und Ereignisse, so dass ihm Rock mehr in Form von Geschichten und Gerüchten als in Form stilistischer Entwicklungen bewusst ist. Seine Hingabe gilt nicht der Musik, sondern dem Musiker, über den er Berichte, Fotos, Unterschriften, Ansteckknöpfe, Poster und Fanzines, vor allem aber alle Schallplatten sammelt, von den offiziellen Pressungen über exotische Lizenzpressungen bis hin zu Bootlegs. Unter allen Rockhörern weiss er am meisten, kann sein Wissen aber am wenigsten organisieren. Musikalischen Qualitäten gegenüber ist er gewissermassen blind. Seine Konzentration auf ein begrenztes Sachgebiet, gepaart mit Begeisterungsfähigkeit, ist allerdings eine gute Vorstufe zur späteren Kennerschaft.

Der informierte Rockhörer nimmt klangliche Unterschiede auch ohne gesichertes theoretisches Rüstzeug genau wahr, identifiziert die einzelnen Klangtypen der Rockgeschichte und zeigt einen ausgeprägten Sinn dafür, was originell und was blosser Abklatsch ist. Als Abonnent einer Zeitschrift wie Sounds, Musik Express, Music Magazin und Spotlight, gar als gelegentlicher Käufer von The New Musical Express, Melody Maker oder Zig-Zag, verfolgt er das aktuelle Musikgeschehen, vergleicht die Plattenbesprechungen und verkehrt gerne mit anderen Rockinteressierten, ohne dass ihm die sektiererische Gründlichkeit des Fans anhaftet. Womöglich spielt er selbst in einer Amateurgruppe. Tibor Kneif (der sich damit wohl selber beschreibt): "Mitunter ist er ein intimer Kenner von Kulturrock-Gruppen wie Pink Floyd, Genesis, Sky und Yes, von New Wave-Formationen, von gehobenen Mainstream-Bands wie Supertramp und von elektronischem Rock, eventuell auch von Jazz Rock. Die besseren Artikel und Plattenbesprechungen in deutschen Rockzeitschriften wenden sich an diesen Hörertyp und stammen vermutlich von Kritikern, die diesem Hörertypus nahekommen." Rock ist trotz Beruf und Familie ein Teil seiner Lebensart. "Der informierte Rockhörer als der reifere, distanzierte Typus entwickelt sich häufig aus dem Fan und aus dem Stimmungshörer. Darin wird deutlich, dass die einzelnen Hörertypen vielfach altersbedingte Entwicklungsstufen eines durchgehenden Prozesses darstellen."

Der Kenner hält es für "ein aus der Bildungsmusik stammendes Vorurteil, dass Musikverständnis im Erkennen von Strukturen und Beziehungen des Formablaufs gipfele." Rockstücke sind aber oft so konventionell, dass sie kaum den Gegenstand für sogenannt strukturelles Hören abgeben. "Wohl aber bildet der Sound, der elektroakustisch aufbereitete Klang von Konzerten und Schallplatten, eine rockspezifische Eigenschaft. Auf seine möglichst präzise Wahrnehmung kommt es beim Rockhören hauptsächlich an." Als Rockkenner kann demnach jemand gelten, "der die beabsichtigten Reizwirkungen in einem Musikstück heraushört, sie mit bestimmten elektroakustischen Ereignissen in Verbindung setzt und zugleich den Stellenwert des Gehörten in der technologischen wie auch in der rockgeschichtlichen Entwicklung zu benennen weiss." Kennerschaft setzt also technologisches Wissen voraus, ebenso die Fähigkeit die Eigenschaften isolierter Klänge zu beachten sowie Anspielungen und Zitate als solche zu erkennen. Schliesslich überschaut er die Rockgeschichte in allen wichtigen Ausprägungen und ist gewissermassen das ideale "Leitbild, an dem sich unzählige Rockhörer ausrichten."