Epikur/Einführung in die Philosophie Epikurs

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Im fünften Jahrhundert v. u. Z. begann die alte allumfassende Wissenschaft der Philosophie vor allem in Himmelskunde und Erdkunde zu zerfallen, während der Gebildete weiterhin musizieren sollte und über die klassischen Dichter Bescheid wissen musste, da derartige Bildung nicht nur von praktischem Nutzen sei, sondern im Alter auch über das Schwinden des tätigen Lebens mit seinen Zielen und Freuden hinwegtröste.

Andere begannen die Philosophie als vollkommenste Tätigkeit des Menschen überhaupt auszurufen. Sie wurde zu einer allumfassenden Lebensform. Angeblich unterscheide sich der Mensch gerade durch sie vom Tiere, auch führe die Philosophie den Menschen geistig zurück in eine überirdische Welt, die seine eigentliche Heimat sei. Schliesslich übernahmen die Philosophen das aristokratische Ideal freier Musse und die dichterische Vorstellung von einem Leben unter dem besonderen Schutz der Götter. Für sie - vor allem Platon und Aristoteles - eröffnete die Philosophie den Zugang zum Sein und zur Wahrheit.

Wiederum andere begannen anzumerken, dass das reine Erkennen nicht alles sei, und das je weniger als es sich in reine Fachwissenschaft verwandle. Nicht der Kosmos solle erkannt werden, sondern die Seele des Menschen solle gestaltet werden.

Schon die ältesten Milesier beschäftigten sich mit Finsternissen, Erdbeben, Blitz und Donner, in denen das Volk gläubig und ängstlich Winke der Götter erblickte. Von Thales her versuchten die Naturphilosphen die Ursachen solcher Erscheinungen anzugeben. Die Kürze des menschlichen Lebens wurde ebenso erkannt wie die Winzigkeit des menschlichen Raumes im Verhältnis zum Weltall und zu den Perioden des Kosmos. Besitzstolz und Adel erwiesen sich hier als reine Lächerlichkeit. Daneben war es aber eine unvergleichliche Leistung, denkend die Winzigkeit des menschlichen Daseins zu überwinden und dem Kosmos als sein Herr und Meister gegenüberzutreten (vor allem Demokrit).

Irgendwann verdichtete sich bei den Griechen die Vorstellung, dass das innere Leben des Menschen in einem Kampf zwischen Vernunft und Leidenschaften bestünde; dass die Vernunft zu herrschen, die Leidenschaften aber zu dienen hätten oder gar vollständig unterdrückt werden müssten; dass aber faktisch immer wieder die Stürme der Liebe, des Hasses, des Zorns den Menschen überwältigten und mit sich rissen. Bereits im 5. Jahrhundert wurde grundsätzlich eine Beherrschung der Affekte und Leidenschaften verlangt, an die die homerischen Helden noch keineswegs dachten - man mag sich nur daran erinnern, dass im Epos noch kräftig geweint und schallend gelacht wird, während dies im 5. Jahrhundert als unschicklich verworfen wurde.

Mit dieser Entwicklung einher ging die Einführung medizinischer Terminologie in die Philosophie: die Herrschaft der Vernunft wurde als Gesundheit, die Leidenschaft als Krankheit der Seele bezeichnet. So wurde der Philosoph zum Arzt der Seele. Demokrit sagte: "Die Arzneikunst heilt des Leibes Krankheiten, die Weisheit befreit die Seele von den Leidenschaften." Als da waren: Angst vor den Himmelserscheinungen und Tod, Ruhmsucht und Besitzgier. Demokrit lachte über die Nichtigkeit des menschlichen Ehrgeizes angesichts der Dimensionen des Kosmos und empfahl die Philosophie als Mittel, das die Gesundheit der Seele herstellen sollte. Auch Sokrates beschrieb die Philosophie als Heilung der kranken Seele: der Philosoph verweilt bei dem Toren wie der Arzt beim Kranken ohne sich anzustecken; die Lehrgegenstände sind die Speisen der Seele, und allein der Philosoph weiss, welche Speisen der Seele zuträglich sind, usw.

Epikur selbst sah wie kein anderer Philosoph der Antike die Aufgabe der Philosophie so konsequent und ausschliesslich in der Heilung der menschlichen Seele:

"Leer ist die Rede jenes Philosophen, die nicht irgendeine Leidenschaft des Menschen heilt. Wie nämlich eine Medizin nichts nützt, die nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch eine Philosophie nichts, die nicht die Leidenschaften aus der Seele vertreibt."

Philosophie, Gesundheit der Seele und Glückseligkeit setzte er gleich:

"Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh oder zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern. Wer behauptet, es sei noch nicht Zeit zu philosophieren oder die Zeit dafür sei schon vorübergegangen, der gleicht einem, der behauptet, die Zeit für die Glückseligkeit sei noch nicht oder nicht mehr da."

Als Leidenschaften galten seit der Zeit der Sophistik: Lust und Schmerz, Begierde und Furcht. Die Lust allerdings gilt Epikur nicht als Leidenschaft, da sie für ihn mit dem Zustand schmerzfreier unbewegter Ruhe zusammenfällt. Dagegen sind die Überwindung von Furcht, Begierde und Schmerz der Mittelpunkt seiner Lehre. Der Weg zu dieser Überwindung führt über das für die Gesundheit der Seele unentbehrliche Minimum philosophischer Einsicht. Durch die Erkenntnis des wahren Wesens der Gottheit wird die Furcht vor den Himmelserscheinungen überwunden. Durch die Erkenntnis des wahren Wesens der Seele wird die Furcht vor den Schrecknissen des Todes überwunden. Die Einsicht, dass alles naturgemässe Begehren begrenzt und leicht erfüllbar ist, ordnet die Begierde ein. Der Schmerz wird tragbar durch den Gedanken, dass heftiger Schmerz kurz, langandauernder Schmerz aber nicht heftig ist.

An den Werken Epikurs fällt im Gegensatz etwa zu den Dialogen von Platon und Aristoteles der völlige Mangel sprachlicher Eleganz und künstlerischer Formung auf. Offenbar verzichtete Epikur bewusst darauf, den Leser mit den Mitteln der Rhetorik zu fesseln, und stattdessen ausschliesslich den Gedanken korrekt und präzis ausdrücken, gewiss in der Meinung, dass nur so der Leser das unbedingte Vertrauen in die Sache selbst gewinnen könne, das für die Heilung der Seele unentbehrlich sei:

"Man muss nicht vorgeben zu philosophieren, sondern wahrhaft philosophieren; denn wir bedürfen nicht des Anscheines der Gesundheit, sondern wirklicher Gesundheit."

Andererseits besitzt Epikur eine erstaunliche Fähigkeit, einen einzelnen Lehrsatz knapp und eindrücklich zu formulieren. Unter den Resten seiner ethischen Schriften findet sich eine ganze Fülle von Kern- und Merksprüchen, die immer wieder gerne gesammelt wurden. Es ist kein Zufall, dass es von Platon, Aristoteles oder Zenon keine derartigen Sammlungen gibt. Die Formulierung solcher Sätze, die prägnant, leicht zu merken und auswendig zu lernen waren, gehört wesenhaft zur philosophischen Therapie Epikurs. Der Epikureer sollte diese Sätze immer präsent haben, damit sie ihm im Moment innerer oder äusserer Bedrängnis helfen können.

Epikur war darauf bedacht, für die verschiedenen Kategorien seiner Schüler seine Lehre in der jeweilen geeigneten Form darzustellen. Für jene, die die Musse hatten, sich ganz der Philosophie zu widmen, schrieb er seine grossen Hauptwerke, vor allem die siebenunddreissig Bücher Über die Natur. Für die übrigen verfasste er mehr oder weniger umfangreiche Auszüge. Die drei erhaltenen Lehrbriefe an Herodotos, Pythokles und Menoikeus sind solche Auszüge und ebenso der Katechismus, die Kyriai doxai, die keine ausgewogene Gesamtübersicht geben wollen, sondern in vierzig Lehrsätzen nur das zusammenstellen, was der Epikureer in den Nöten und Anfechtungen des Lebenswissen muss.

In den Werken Epikurs nehmen die Briefe einen ganz besonderen Platz ein. Zwar haben auch Platon und Aristoteles Briefe geschrieben; aber diese waren nur zum Schein an einzelne Freunde gerichtet, in Wahrheit waren es literarische Dokumente, in denen die Philosophen etwa ihr Verhältnis zu den Fürsten von Syrakus oder Makedonien vor der Welt rechtfertigten. Die Briefe Epikurs dagegen sprechen wirklich zu den Einzelnen, beraten, trösten, loben, erinnern den Freund in der Bedrängnis an vergangene Freude oder warnen ihn vor der Überschätzung äusseren Erfolges. Von allem, was Epikur geschrieben hat, haben ohne Zweifel die Briefe am stärksten gewirkt. In ihnen war er Seelenarzt wie kein anderer Philosoph der Antike.

Mit dieser warmen Menschlichkeit scheint nun allerdings die Heftigkeit der philosophischen Polemiken Epikurs in einem sonderbaren Gegensatz zu stehen. Es sind ganze Listen bösartiger Spitznamen überliefert, mit denen Epikur die anderen Philosophen bedacht hat. In den erhaltenen Lehrtexten findet sich kaum eine Seite, in der nicht polemisiert wird. Da aber Epikur den Menschen Befreiung von der Angst bringen wollte, gehörte dazu nicht nur, dass man sie über Himmelserscheinungen und Hadesvorstellungen aufklärte; dazu gehörte auch, dass man sie zur Auseinandersetzung mit fremden Lehren gut ausrüstete. Die Lehre selber nützte nicht viel, wenn der Epikureer den Argumenten des Platonikers hilflos gegenüberstand. Darum musste der Epikureer von vornherein wissen, dass es viele abweichende Meinungen gab, und musste von vornherein erfahren, was er von diesen Meinungen zu halten hatte. Das Ziel der Polemiken Epikurs war es also, den Jünger gegen Anfechtungen sicher zu machen. So ergab sich die Form seiner Lehre aus dem, was für Epikur die Aufgabe der Philosophie überhaupt war.

Platonisch wirkt es allerdings, wenn sich Epikur in überraschend verächtlichen Ausdrücken gegen die banausische Lohnarbeit wendet und ihr das "freie Leben" gegenüberstellte, ganz besonders wenn Epikur die Beschäftigung mit der Naturphilosophie selber als eine Quelle der Glücksseligkeit und inneren Ruhe schildert, oder wenn er sagt, dass bei der Philosophie allein das Lernen und der Gewinn beim Lernen zusammenfalle; hier allein

"kommt der Genuss nicht nach dem Lernen, sondern Lernen und Genuss sind gleichzeitig."

Damit wird Philosophie zum Ausdruck der Beruhigtheit und Glückseligkeit, zu deren Zweck sie betrieben wird. Insofern steht sie der Freundschaft gleich. Auch diese ist zunächst ein Mittel zur Sicherung des Lebens - wird aber schliesslich eine Ausdrucksform des glückseligen Lebens selbst.

Was den Inhalt der Lehre selbst angeht, so ist im Ton der Texte Epikurs ein unangenehmer Widerspruch zu vernehmen. Es gibt zahlreiche Stellen, die einen fast brutal aufklärerischen und doktrinären Charakter haben. Einzelne Lobreden auf die Lust des Bauches und einzelne Angriffe auf die altehrwürdigen Ideale der Tugend wirken nahezu zynisch. Auf der anderen Seite ist das epikureische Leben derart mild und selbstgenügsam, dass es beinahe einem Mythos gleichkommt. Der Widerspruch lässt sich nicht wegleugnen. Er lässt sich nur damit erklären, dass Epikur gleichzeitig Erbe verschiedener Traditionen war. Die eine war die sophistische Aufklärung des 5. Jahrhunderts, die unbelastet durch herkömmliche Werte mit dem reinen Denken die äussersten Möglichkeiten durchzuexperimentieren versuchte. Die andere war die vernünftig resignierte altgriechische Lebensweisheit, wie sie sich vor allem in der sokratischen Literatur sammelte. Es wurde ihm auch vorgeworfen, sein System sei zusammengesetzt aus lauter Plagiaten, teils aus der Naturphilosophie des Demokrit, teils aus den Werken des Aristippos von Kyrene. Jedenfalls war schon zu seiner Zeit die Spannung zwischen sophistischem Radikalismus und genügsam-kluger Lebensweisheit nicht zu übersehen.

Immer beginnt Epikur mit extremen, der Überlieferung quer ins Gesicht schlagenden Doktrinen und entwickelt sie in einer Weise, dass dabei faktisch die Lebensart des sokratischen Weisen herauskommt. Die schroffen Theorien stehen dabei eher im Hintergrund. Die Praxis aber zeigt das Bestreben, in einer möglichst schmerzlosen und einfachen Weise mit den Gegebenheiten des Lebens fertig zu werden. Dies sei nun an seinem wichtigsten Lehrstück verfolgt.

Dabei handelt es sich wie billig um die Lehre von der Lust als Ziel des menschlichen Lebens. Im Prinzip ist sie auf die Sophistik zurückzuführen. Das ethische Denken der Sophistik wollte die durch die Überlieferungen der klassischen Dichter (Homer, Hesiod, Phokylides, Theognis) gegebene unbestimmt vielgestaltige Ethik der Griechen durch eine andere Ethik ersetzen, die unbezweifelbar richtig und immer und überall gültig zu sein vermochte, weil sie aus der Natur des Menschen an sich abgeleitet wäre. Was aber war die natürliche Ethik? Die Sophistik gab als Quellen die Beobachtung am Säugling an, und die Beobachtung am Tiere, das gänzlich ausserhalb der menschlichen Kultur stand und doch ein Lebewesen war wie der Mensch selber. Als Ergebnis entstanden zwei scharf und provozierend aufklärerische Formen der Ethik, die mit Absicht allen anerkannten heroischen und bürgerlichen Idealen widersprachen:

Das eine war die Ethik der Pleonexia, des Rechts des Stärkeren: Ihr zufolge besteht in der Natur die Gerechtigkeit darin, dass der Stärkere bedingungslos über die Masse der Schwächeren herrscht - im Zustand der Kultur jedoch hat die Masse der Schwachen dem Starken Fesseln angelegt und bedroht ihn mit Strafen aller Art, wenn er wagt, sein natürliches Recht durchzusetzen; wo aber der Einzelne sich über diese Drohungen hinwegsetzt, da stellt er die Gerechtigkeit der Natur wieder her. Platon setzte sich zweimal ausführlich mit dieser Lehre auseinander, einmal im Gorgias, dann im Staate, und kam zum Schluss, dass der auf sich gestellte Mensch die Macht ergreift, wo er sie fassen kann. Schon früher erzählte Antisthenes die Fabel von den Löwen, die sich bloss darüber lustig machten, wie die Schafe vorschlugen, es solle im Tierreich gleiches Recht für alle gelten. Nach dieser Lehre war also die bürgerliche Gerechtigkeit ausschliesslich eine Erfindung der Kultur zur Sicherung der Schwachen, und wenn er ihr gehorchte, so tat er es nur, um den festgesetzten Strafen zu entgehen.

Das Gegenstück zu dieser Ethik war die Ethik der Lust: Die erste Regung des Säuglings ist es, den Schmerz zu meiden und das Angenehme zu suchen. Das Provozierende dieser Ethik lag vor allem darin, dass sie rücksichtslos eine bis dahin verschwiegene Sphäre des privaten, individuellen Fühlens und Begehrens in den Mittelpunkt des Lebens stellte. Am Anfang stand wohl die radikale These, jede Lust sei erstrebenswert, weil dies der Natur des Menschen entspräche. Sie war aber praktisch nicht durchführbar, vor allem weil beispielsweise schon ungehemmte Gier im Essen und Trinken im Augenblick zwar Genuss bereitet, hinterher aber die Gesundheit ruiniert. In Platons Protagoras gilt die Lust zwar als Ziel des Lebens, als praktisches Regulativ ist die Lust aber mit der Unlust verbunden, und es gilt vernünftig abzumessen, wie der Mensch am meisten Lust und am wenigsten Unlust gewinnen kann; dann wird er zuweilen auf Lust verzichten und Schmerz auf sich nehmen müssen, damit die grössere Lust als Ziel erreicht werden kann - so etwa indem man sich eines allzu üppigen Mahles enthält und um der Gesundheit willen stattdessen Gymnastik treibt. Hier also werden Lust und Schmerz notwendig aneinander gebunden, und diese Bindung führt zu dem Paradoxon, das in der Tat Epikur aussprach, dass nämlich die Lust das alleinige und oberste Ziel des Lebens ist, dass sie aber dennoch nicht unter allen Umständen erstrebt werden soll. Platon kannte das Probelm zwar, aber seine eigentliche Lehre war immer die, dass ein Gutes gesucht werden solle, das rein für sich bestünde und das immer und unter allen Umständen zu erstreben sei.

Schon früh wandelte sich bei den Griechen die Unmöglichkeit, die äusseren Dinge zu erkennen in das delphische "Erkenne dich selbst", das sich schon bei Heraklit findet. Das Einzige, was der Mensch erkennen kann, ist er selbst. Er erkennt sich nicht als Seiendes, sondern als ein unendlich Werdendes und Bewegtes; die Zustände dieses Bewegtseins heissen nun Lust oder Schmerz; Lust, wenn die Berührung eine ruhige und glatte, Schmerz, wenn sie eine rauhe und stürmische ist. Für Epikur dagegen ist die Lust ein Begrenztes und Ruhendes, ein Seiendes, so wie das Gute bei Platon ein Seiendes ist. Diese Umgestaltung der Lehre war sicher beeinflusst durch Diskussionen in der platonischen Akademie und im Peripatos des Aristoteles. Man denke vor allem an das Bild aus dem platonischen Gorgias: die Bewegung des endlosen Strebens nach Lust ist gleich dem endlosen Nachfüllen eines unten durchlöcherten Fasses, die auf ein ruhendes Ziel gerichtete Bewegung dagegen ist das Füllen eines dichten Fasses, bis es voll ist. Epikur nimmt dieses Bild auf, wenn er etwa schreibt:

"Den Menschen nützt der naturwidrige Reichtum ebensowenig wie das Nachfüllen von Wasser in ein schon gefülltes Gefäss, denn offenbar fliesst beides nach aussen wieder ab."

Was der Mensch also erstreben soll, ist der Zustand der Ruhe, in welchem das Fass gefüllt ist, in welchem also die Grenze von Lust und Reichtum erreicht ist. Für Platon liegt es im Wesen der Lust, grenzenlos wandelbar zu sein. Epikur gibt der Lust eine bestimmte Umgrenzung und Gestalt. Er setzt sie der Schmerzlosigkeit gleich; denn alles, was der Leib wolle, sei Nicht frieren, Nicht hungern, Nicht dürsten, und alles, was die Seele wolle, sei Nicht traurig sein und Nicht Angst haben. Ganz lässt sich diese überraschend negative Formel nicht erklären. Ist ein Einfluss anzunehmen etwa von Spekulationen der Art, dass vom letzten Sein und Ziel nur gesagt werden kann, was es nicht ist, nicht aber was es ist? Jedenfalls erlaubt die negative Bestimmung der Lust als Freiheit von Schmerz Epikur, den Übergang zu dem Ideal asketischer Selbstgenügsamkeit zu finden, das ebenfalls in sophistischer und sokratischer Literatur vorlag. Die höchste Lust ist ihr zufolge am sichersten dann zu erreichen, wenn der Mensch sich mit jenem äussersten Minimum an äusserem Aufwand zufriedengibt, das ihn vor Krankheit und Entbehrung schützt.

Die Lust ist damit das Ziel des Lebens und an sich kann derjenige nicht getadelt werden, der ununterbrochen möglichst viel Lust aufzuhäufen sucht. Das Leben sybaritischer Schlemmer ist nicht an sich verwerflich, so erklärt Epikur in aufreizend scharfer Polemik gegen Platon und Aristoteles; aber es ist auch nicht empfehlenswert, weil es das Ziel, das es erreichen will, nicht erreicht. Lust und Schmerz sind aneinander gebunden und man muss darum oft Schmerz wählen und die Lust meiden - und ferner ist die Lust nicht ein grenzenlos Werdendes, sondern ein Seiendes, das an der Beseitigung allen Schmerzes seine feste natürliche Grenze hat. Das Endergebnis wäre also kluges Abwägen und ein bescheidener Verzicht auf alles, was nicht zur Abwehr von Schmerz und Not unbedingt notwendig ist.

Epikurs Lust ist dabei so sehr ein Seiendes im ursprünglichen Sinne des Parmenides, dass sie nicht in der Kategorie der Zeit steht. Es macht für ihre Qualität nichts aus, ob sie lange oder kurz dauert, da der höchste, seiende Wert sich gleichbleibt, ob er vom Menschen her gesehen eine Ewigkeit oder auch nur einen Augenblick lang verwirklicht wird. Auch die Stoa übernahm diesen Gedanken; Aristoteles anerkannte ihn für die Lust, bezeichnenderweise aber nicht für die Glückseligkeit, da die Glückseligkeit eines Tages nicht dieselbe sei wie diejenige eines ganzen Lebens.

Für Epikur führt dieser Gedanke zu zwei wichtigen Folgen. Wenn kein Unterschied zwischen einer ewigen und einer augenblicklichen Lust besteht, so besteht auch kein Unterschied zwischen der Glückseligkeit der Götter und derjenigen der Menschen. Der Mensch, der die Schmerzlosigkeit erreicht hat, kann an Glückseligkeit sogar mit Zeus wetteifern, so erklärt er an einer berühmten Stelle. Die Götter unterscheiden sich also vom Weisen nur durch die äussere Dauerhaftigkeit, nicht durch die Qualität ihrer lusterfüllten Glückseligkeit. Wenn ferner nichts wesentliches darauf ankommt, ob die Lust lang oder kurz währt, dann kommt es auch nicht darauf an, ob der Mensch lang oder kurz lebt. Hatte er einmal die volle Ruhe der Lust erreicht, dann kann er zufrieden sterben, denn auch achtzig weitere Lebensjahre könnten seine Lust nicht mehr vermehren. Es wäre auch töricht, seinen Tod zu beklagen; denn in dem einen Augenblick der Lust hat er alles erreicht, was der Mensch überhaupt zu erreichen fähig ist. Freilich darf man den Tod nicht freiwillig suchen, denn es ist auch epikureischer Grundsatz, dass für den, der sich ernsthaft philosophisch bemüht, das Mass der Lust im Leben immer grösser ist als das Mass des Schmerzes. Es gibt zwar kein Leben ohne Schmerz wie es die Stoiker behaupteten. Während aber die Stoiker zwischen der Tugend (also der Glückseligkeit) und dem Leben glaubten wählen zu müssen, hielt Epikur daran fest, dass das Leben immer hinreichend Lust enthielt, damit es lebenswert bliebe. Der Weise wird also den Tod weder als Erlösung von irgendwelchen Schmerzen suchen, noch wird er sich vor ihm fürchten, als ob der Tod das Mass seiner Lust verkürzen könnte.