Text "Prag" (Franz Hohler): Unterschied zwischen den Versionen

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Aus dem Buch <i>Idyllen</i> (1970).
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<b>Prag</b>


Wenn man ein östliches Land besucht, gibt einem oft ein Bekannter etwas für einen Bekannten mit, der einem dann misstrauisch die Tür öffnet und erst bei der Nennung des Namens seines Bekannten in überschwengliche Herzlichkeit ausbricht.
Wenn man ein östliches Land besucht, gibt einem oft ein Bekannter etwas für einen Bekannten mit, der einem dann misstrauisch die Tür öffnet und erst bei der Nennung des Namens seines Bekannten in überschwengliche Herzlichkeit ausbricht.


Ich läute bei einem solchen Bekannten, es ist ein ehemaliger Schlossbesitzer, dem man 1948 sein Schloss in Ostböhmen verstaatlicht hatte. Es hatte 48 Zimmer, dafür hat er jetzt freien Eintritt, wenn er es besuchen will. Wie ich komme, sagt er gleich: "Das kann nur in Tschechoslowakei passieren. Wir haben Kohl bestellt, ist er zehn Minuten gekommen, und jetzt missen wir in der Kiche essen." Ich verstehe den Zusammenhang nicht, aber wir gehen in die Kiche. Seine Frau ist rund und bodenständig, und wenn ich etwas Tschechisches sage, stützt sie die Hände in die Hüften und sagt strahlend krasn&#253;, mit einem ganz langen a. Ein hellblauer Wellensittich hüpft in seinem Käfig herum und ruft dauernd seinen Namen: "Pepicek Svagera! Pepicek Svagera!" Der Schlossbesitzer beugt sich tief über seinen Teller und erzählt, er sei 16 Jahre lang Schoffeer gewesen. Während des Essens läuft das Radio unablässig weiter, und sobald jemand fertig ist, zieht er ihm den Teller unter den Händen weg und stellt ihn auf das Abwaschbrett. Er hat eine Glatze, zeigt Postkarten von seinem Schloss und hofft, dass seine Pension demnächst erhöht wird.
Ich läute bei einem solchen Bekannten, es ist ein ehemaliger Schlossbesitzer, dem man 1948 sein Schloss in Ostböhmen verstaatlicht hatte. Es hatte 48 Zimmer, dafür hat er jetzt freien Eintritt, wenn er es besuchen will. Wie ich komme, sagt er gleich: "Das kann nur in Tschechoslowakei passieren. Wir haben Kohl bestellt, ist er zehn Minuten gekommen, und jetzt missen wir in der Kiche essen." Ich verstehe den Zusammenhang nicht, aber wir gehen in die Kiche. Seine Frau ist rund und bodenständig, und wenn ich etwas Tschechisches sage, stützt sie die Hände in die Hüften und sagt strahlend krasný, mit einem ganz langen a. Ein hellblauer Wellensittich hüpft in seinem Käfig herum und ruft dauernd seinen Namen: "Pepicek Svagera! Pepicek Svagera!" Der Schlossbesitzer beugt sich tief über seinen Teller und erzählt, er sei 16 Jahre lang Schoffeer gewesen. Während des Essens läuft das Radio unablässig weiter, und sobald jemand fertig ist, zieht er ihm den Teller unter den Händen weg und stellt ihn auf das Abwaschbrett. Er hat eine Glatze, zeigt Postkarten von seinem Schloss und hofft, dass seine Pension demnächst erhöht wird.


Ich sage, dass ich im November wiederkomme. Das Wort für November heisst auf tschechisch Blätterfall. Man sagt also "im nächsten Blätterfall". Wenn man als Ausländer tschechisch lernt, schlägt einem eine Art freudiger Verständnislosigkeit entgegen. Alle sind erstaunt, sagen krasn&#253;, aber niemand begreift recht, was man damit will.
Ich sage, dass ich im November wiederkomme. Das Wort für November heisst auf tschechisch Blätterfall. Man sagt also "im nächsten Blätterfall". Wenn man als Ausländer tschechisch lernt, schlägt einem eine Art freudiger Verständnislosigkeit entgegen. Alle sind erstaunt, sagen krasn&#253;, aber niemand begreift recht, was man damit will.


Es ist Februar, die Stadt ist ungeheuer schmutzig. Schneebrigaden schaufeln für 10 Kronen in der Stunde die Hauptstrassen frei, indem sie den Schnee auf eine Baggerschaufel werfen, welche ihn dann auf einen Lastwagen hebt. Auf den Nebenstrassen liegt eine matschige schwarzbraune Schicht, aber wenn genug Autos durchfahren, sieht man nach einiger Zeit zwei Streifen Kopfsteinpflaster. Im Prager Polizeigebäude sind alle Türen gegen aussen mit Leder gepolstert und haben keine Falle, man kann also nicht anklopfen, wenn man etwas will. In einer Ecke der Bethlehemkapelle murmelt ein Fremdenführer seine Litanei, und im alten Ghettoareal ruft eine Frauenstimme von einer dunklen Fassade auf die Strasse hinunter: "Abraham!" Meine Freundin lacht und sagt, opodeldok könne man nicht übersetzen.
Es ist Februar, die Stadt ist ungeheuer schmutzig. Schneebrigaden schaufeln für 10 Kronen in der Stunde die Hauptstrassen frei, indem sie den Schnee auf eine Baggerschaufel werfen, welche ihn dann auf einen Lastwagen hebt. Auf den Nebenstrassen liegt eine matschige schwarzbraune Schicht, aber wenn genug Autos durchfahren, sieht man nach einiger Zeit zwei Streifen Kopfsteinpflaster. Im Prager Polizeigebäude sind alle Türen gegen aussen mit Leder gepolstert und haben keine Falle, man kann also nicht anklopfen, wenn man etwas will. In einer Ecke der Bethlehemkapelle murmelt ein Fremdenführer seine Litanei, und im alten Ghettoareal ruft eine Frauenstimme von einer dunklen Fassade auf die Strasse hinunter: "Abraham!" Meine Freundin lacht und sagt, opodeldok könne man nicht übersetzen.
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== Anmerkungen ==
== Anmerkungen ==


[http://de.wikipedia.org/wiki/Opodeldok Opodeldok] (der oder das; von griech. opós "Pflanzensaft") ist eine vom Arzt Theophrastus Paracelsus benannte Mischung von Seife, Kampfer, Rosmarin- und Thymianöl, die unter anderem als Mittel zum Einreiben gegen Rheumatismus und Gicht verwendet wurde. Neben zweifelhafter Wirksamkeit zeichnete er sich durch einen penetranten Geruch aus.
* [http://de.wikipedia.org/wiki/Opodeldok Opodeldok] (der oder das; von griech. opós "Pflanzensaft") ist eine vom Arzt Theophrastus Paracelsus benannte Mischung von Seife, Kampfer, Rosmarin- und Thymianöl, die unter anderem als Mittel zum Einreiben gegen Rheumatismus und Gicht verwendet wurde. Neben zweifelhafter Wirksamkeit zeichnete er sich durch einen penetranten Geruch aus.




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Aktuelle Version vom 6. Februar 2010, 16:49 Uhr

Autor Franz Hohler
Texttitel Prag
Sprache deu
Textform Geschichte
Veröffentlichung 1970

Prag

Wenn man ein östliches Land besucht, gibt einem oft ein Bekannter etwas für einen Bekannten mit, der einem dann misstrauisch die Tür öffnet und erst bei der Nennung des Namens seines Bekannten in überschwengliche Herzlichkeit ausbricht.

Ich läute bei einem solchen Bekannten, es ist ein ehemaliger Schlossbesitzer, dem man 1948 sein Schloss in Ostböhmen verstaatlicht hatte. Es hatte 48 Zimmer, dafür hat er jetzt freien Eintritt, wenn er es besuchen will. Wie ich komme, sagt er gleich: "Das kann nur in Tschechoslowakei passieren. Wir haben Kohl bestellt, ist er zehn Minuten gekommen, und jetzt missen wir in der Kiche essen." Ich verstehe den Zusammenhang nicht, aber wir gehen in die Kiche. Seine Frau ist rund und bodenständig, und wenn ich etwas Tschechisches sage, stützt sie die Hände in die Hüften und sagt strahlend krasný, mit einem ganz langen a. Ein hellblauer Wellensittich hüpft in seinem Käfig herum und ruft dauernd seinen Namen: "Pepicek Svagera! Pepicek Svagera!" Der Schlossbesitzer beugt sich tief über seinen Teller und erzählt, er sei 16 Jahre lang Schoffeer gewesen. Während des Essens läuft das Radio unablässig weiter, und sobald jemand fertig ist, zieht er ihm den Teller unter den Händen weg und stellt ihn auf das Abwaschbrett. Er hat eine Glatze, zeigt Postkarten von seinem Schloss und hofft, dass seine Pension demnächst erhöht wird.

Ich sage, dass ich im November wiederkomme. Das Wort für November heisst auf tschechisch Blätterfall. Man sagt also "im nächsten Blätterfall". Wenn man als Ausländer tschechisch lernt, schlägt einem eine Art freudiger Verständnislosigkeit entgegen. Alle sind erstaunt, sagen krasný, aber niemand begreift recht, was man damit will.

Es ist Februar, die Stadt ist ungeheuer schmutzig. Schneebrigaden schaufeln für 10 Kronen in der Stunde die Hauptstrassen frei, indem sie den Schnee auf eine Baggerschaufel werfen, welche ihn dann auf einen Lastwagen hebt. Auf den Nebenstrassen liegt eine matschige schwarzbraune Schicht, aber wenn genug Autos durchfahren, sieht man nach einiger Zeit zwei Streifen Kopfsteinpflaster. Im Prager Polizeigebäude sind alle Türen gegen aussen mit Leder gepolstert und haben keine Falle, man kann also nicht anklopfen, wenn man etwas will. In einer Ecke der Bethlehemkapelle murmelt ein Fremdenführer seine Litanei, und im alten Ghettoareal ruft eine Frauenstimme von einer dunklen Fassade auf die Strasse hinunter: "Abraham!" Meine Freundin lacht und sagt, opodeldok könne man nicht übersetzen.

Versionen

Datum Autor Format Titel Verlag Anmerkungen
1970 Franz Hohler Buch Idyllen xx:

Anmerkungen

  • Opodeldok (der oder das; von griech. opós "Pflanzensaft") ist eine vom Arzt Theophrastus Paracelsus benannte Mischung von Seife, Kampfer, Rosmarin- und Thymianöl, die unter anderem als Mittel zum Einreiben gegen Rheumatismus und Gicht verwendet wurde. Neben zweifelhafter Wirksamkeit zeichnete er sich durch einen penetranten Geruch aus.